Nickel: Roman (German Edition)
hundertfünfzig. Ich überlegte, ob ich meine eigene Adresse wieder einmal überprüfen sollte, aber das letzte Mal war erst ein paar Tage her. In meinem Viertel gibt es in einem Zehnmeilenradius rein gar nichts. Bitte schön, liebe Nachbarn. Arrows und Shelbys Viertel bedeutete allein schon jede Menge Recherche, und dabei hatte ich mit Arrow nicht einmal darüber gesprochen, wie ernst die Sache war. Die Datenbank war die erste Anlaufstelle, aber wahrscheinlich war der Täter noch gar nicht auffällig geworden. Ich klickte auf irgendeinen Perversen aus dem zweiten Suchdurchlauf. Kein Glück, er war nur wegen Vergewaltigung erwachsener Frauen eingebuchtet worden. Die nächsten beiden standen auf kleine Jungen. Warum lächeln eigentlich zwei Drittel dieser Kerle auf ihren Polizeifotos?
Der Vierte war ein Treffer. Hatte was für Minderjährige übrig, sexueller Missbrauch eines Mädchens unter zwölf. Ich sah mir das Profil näher an – zu hastig. Übersah das Geburtsdatum, erst auf den zweiten Blick fiel es mir auf. Der arme Kerl war vierzehn und das Mädchen eine Woche jünger als zwölf. Es klang, als hätte man ihn dabei erwischt, wie er das, was bei ihr als Brüste durchging, berührte; sie war einverstanden, aber ihre Mutter nicht. Ich suchte weiter.
Die nächsten drei Treffer lagen alle innerhalb von dreizehn Meilen um Arrows Adresse. Derselbe Wohnwagenpark, derselbe Wohnwagen. Drei zum Preis von einem? Nein. Wahrscheinlich ein Wiedereingliederungsheim, ein Heim für Durchgeknallte, und die drei waren Insassen. Ich schickte mir die Seite per E-Mail zu, aber innerlich schrieb ich sie bereits ab. Wiedereingliederungsheime sind immer Nieten. Ich machte eine Pause, sah nach meinen Angelschnüren. Jede Menge angeknabberte Köder, aber niemand hatte richtig angebissen. Der Pager piepte in der Hosentasche. Ich sah nach: Gary, 400. Vier Unzen, kein schlechter Abend. Ich schloss die Chatfenster, setzte eine Vierzigmeilensuche für die Adresse auf und ging in den Keller. Ich schnappte mir vier Unzen Pot, setzte mich noch mal aufs Rad und stürzte mich in die Finsternis.
Die Highschool war etwa so weit entfernt wie die Post, aber nachts konnte ich viel schneller fahren. Zu viele Stoppschilder unterwegs und zu viele Leute, die nicht wissen, wie man mit ihnen umgeht. Nachts war es eine Vergnügungsfahrt, eine Spionagemission auf meinem Mountainbike, schwarze Aluräder und Geheimnisse so tief wie der Marianengraben. Den Rucksack voller Pot und den Kopf voller vermisster Schwestern radelte ich dahin; das Herz voller Nichts.
Ich deponierte das Dope in dem Schaltschrank, den ich aufgestellt hatte, bevor ich zum ersten Mal mit Gary sprach. Ich hatte mich vorher schlau gemacht, wusste alles über ihn. Er wusste über mich nur, dass ich ihm Pot verkaufte. Den Schaltschrank zu installieren war einfach gewesen: Ich hatte Blech gekauft, es zusammengesetzt und grün angemalt. Dann hatte ich ihn eines Abends an einer Ecke nahe der Highschool aufgestelltund einen Busch daneben gepflanzt. Der Kasten war an einem dicken Holzbalken befestigt und man konnte ihn mit einem Knopf auf der dem Schloss gegenüberliegenden Seite öffnen. Soweit ich wusste, hatte ihn sich von der Schule nie jemand angesehen. Jedenfalls war das nur ein weiterer Beleg für die Haltung der meisten Normalbürger: Warum sollte man auch hinterfragen, wie ein Stromversorger dazu kam, Platz im eigenen Vorgarten zu stehlen?
Letztes Jahr war Gary noch einer der größten Deppen an der Northland High School gewesen; dieses Jahr hätte er Prom-King werden können, wenn er gewollt hätte. Gary war vor eineinhalb Jahren zu meinem Projekt geworden und kein Projekt von mir hat sich je besser entwickelt. Ich glaube, ich würde Gary mögen, und vielleicht lerne ich ihn eines Tages sogar kennen.
Garys Problem war seine Mutter. Sie zerstörte sein Leben und war vermutlich noch nie vom rechten Weg abgekommen – eine nette Mischdiät aus Hardcore-Erweckungsbewegungsgedankengut und einem Satz so strenger Regeln, dass das Staatsgefängnis von Michigan dagegen wie ein Sommerlager wirkte. Gary versuchte wie ein braver Sohn damit umzugehen, aber ich sah mehr, als sein Foto im Highschooljahrbuch mir verraten sollte. Es war nicht bloß der vereinsamt wirkende Facebook-Account voller abgedroschener Sprüche, aber ohne Freunde; ich sah da noch etwas – etwas, das sehnlichst ausbrechen wollte. Ich reichte ihm die Hand – per Wegwerfhandy mit eingeschränktem SMS-Volumen. Ich schickte ihm
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