Nicodemus
sternenklare Nachthimmel.
Langsam kroch die schwarze Masse auf seine Füße zu. Der Schleimbedeckte nun schon seine Fesseln, löste sie auf, und Nicodemus stürzte wie eine Statue zu Boden.
Er schlug mit dem Kinn aufs Pflaster, biss sich auf die Zunge, und Blut strömte in seinen Mund.
Als ihm der Schleim auch über Beine, Rumpf und Nacken kroch, stieß Nicodemus einen spitzen Schrei aus.
Der Himmel wurde schwarz und legte sich wie ein Tuch über ihn. Seine Haut begann zu verfaulen, und er war nun von riesigen, grauen Schuppen bedeckt. Das Kopfsteinpflaster erzitterte und verflüssigte sich zu Wellen, die sich bis zum Horizont ausdehnten und zum Meer wurden.
Zwischen den Schuppen trat Blut aus. Aus Nicodemus’ Rücken brachen Flügel hervor. Sein Hals krampfte sich zusammen, um sich gleich darauf in die Länge zu strecken, und seine faulige Haut härtete zu einem roten Schuppenpanzer aus.
Und dann war Nicodemus mit einem Mal in den Lüften, schwang seine Flügel durch die salzige Meeresluft. Vor ihm lag die Abenddämmerung in ihrem Glanz. Doch er selbst strahlte noch heller. Wenn ihn doch jetzt nur jemand sehen könnte, ein jeder wäre von der Pracht seiner breiten Brust, den goldenen Augen und den Elfenbeinzähnen überwältigt. Wie eine Fahne schweifte sein Schwanz im Wind hin und her.
Am Horizont tauchte ein dunkler Landstrich auf, der sich als Silhouette einer Stadt entpuppte. Obgleich Nicodemus diesen Ort noch nie zuvor gesehen hatte, kannte er ihn gut. Wie die Schorfkruste einer Wunde hatte sich diese Stadt um eine sichelförmige Bucht gelegt. Weiter im Landesinneren standen fünf Berge. Selbst von dieser Distanz vermochte Nicodemus die bröckelnden Marmorwände der Zitadelle auszumachen. Dahinter ragte der Neosolare Palast empor, in dessen magisch blankem Messing sich die Morgenröte spiegelte.
Auf einmal stand die Welt still. Mit ausgebreiteten Flügeln hing Nicodemus reglos in der Luft. Auf wundersame Weise war er mehrere Personen zugleich: Bald ein alter Fischer, der vom Hafen aus auf diese seltsam fliegende Gestalt blickte, bald auch ein Bettlermädchen, das von einer schmalen Gasse aus auf einen massiven schwarzenKlotz am Himmel starrte, und zudem ein junger Zauberlehrling, der in einem weit entfernten Speicherturm schlief.
Plötzlich aber flammte blinder Hass in ihm auf. Die Welt erwachte aus ihrer Starre, und er war wieder die Pracht aus Klauen, Flügeln und Zähnen.
Er stürzte sich hinab. Der Wind pfiff an ihm vorbei, während die Stadt auf ihn zuraste. In letzter Sekunde breitete er die Flügel aus und schwang seine Hinterbeine in die Palastdecke. Mit den Krallen hieb er auf das Dach ein, so dass es Steine und Metall hagelte. Unter kräftigem Flügelschlagen blies er eine Feuerwolke in den geschändeten Palast.
Erst nach acht weiteren Sturzflugattacken fiel der Hauptturm. Unterdessen war die Sonne aufgegangen, doch der Rauch der Zerstörung trübte ihren Glanz.
Die ersten Angreifer waren unbedeutende Wesen, so hilflos wie Ameisen, an die ihre in Rüstungen gekleideten Regimenter erinnerten. Gellend waren sie von der Stadt heraufgezogen. Ihre Pfeile spürte er auf seinem Schuppenkleid kaum mehr als Nadelstiche. Er stieg hoch in die Luft und stieß dann im Sinkflug hinab. Die Soldaten waren mit Speeren und Spießen bewaffnet. Im letzten Moment breitete er seine Flügel fächermäßig aus und drehte nach rechts ab. Mit ausgestreckten Klauen stieß er gegen eine Mauer.
Die herabstürzenden Trümmer begruben die meisten Männer unter sich, der Rest floh. Er ließ sich auf der bröckelnden Mauer nieder und erledigte die verbliebenen Lebenden mit einem schmalen Feuerstrahl.
Als er sich erneut in die Lüfte schwang, schnellte ein Bogen aus silbrigem Magnus aus der Zitadelle hervor und traf ihn knapp über dem rechten Vorderlauf. Er stürzte in die Tiefe und konnte sich nur mit verzweifeltem Flügelschlagen in der Luft halten.
Allmählich gewann er wieder an Höhe und schwenkte um Richtung Zitadelle. Während er sich näherte, explodierte eine zweite Textbombe. Diesmal war Nicodemus vorgewarnt, duckte sich unter dem Zauber hinweg und stürzte auf die Meute der Zauberer zu, die ihn angegriffen hatten.
Ein paar der schwarz Gewandeten flohen, doch die meisten hielten sich tapfer und beschworen einen Textwall herauf. Mit einem einzigen Schwanzhieb zertrümmerte er den Schild, und die Zauberer waren seinem Atem nun schutzlos ausgeliefert.
Er feierte den grausamen Triumph, indem er eine weitere
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