Nicodemus
zu verbünden. Sagt mir den Namen des Jungen, und wir beide können so weitermachen wie der Meister und Nora Finn. Ihr lasst mich den Jungen sehen, wenn er schläft – so wie Ihr Euch ausgedrückt habt –, und ich verdoppele Finns Lohn noch einmal. Lehnt Ihr ab, werde ich Euch auf der Stelle töten. Vor allem werde ich dem Jungen seine Kräfte nehmen oder ihn notgedrungen sofort töten.«
Nun musste Shannon schwer schlucken. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass Nicodemus’ Leben und auch sein eigenes heute Nacht enden könnten.
»Ihr hängt an dem Jungen«, bemerkte die Stimme kalt. »Was man von der Grammatikerin nicht gerade behaupten konnte. Ihr ging es nur darum, was er war und nicht wer.«
»Und was ist er? Ist er der Auserwählte, von dem die Prophezeiung des Erasmus spricht?«
Der Mörder grunzte. »Kaum etwas ist so lästig wie Unwissenheit.«
Shannon lachte schallend: »Und doch kennt Ihr den Namen des Jungen nicht.«
»Vielleicht kenne ich den Namen nicht, aber ich würde jeden männlichen Kakographen umbringen, um ihn zu finden. Ich kann Träume auswerfen, so wie Ihr Netze auswerft. Wenn Ihr also nicht wollt, dass ich jeden Jungen im Speicherturm ermorde, dann geht auf mein Angebot ein.«
Shannon sah Noras Forschungstagebuch vor sich auf dem Boden. Die Rückseite war aufgeschlagen. Die scharfen Worte des Zaubers glühten vor seinen Augen.
»Braucht Ihr noch mehr Anreiz?«, fragte die Stimme. »Es gibt auch Belohnungen, die heller strahlen als Gold. Mit dem Smaragd beherrsche ich Primus. Ich könnte Euch verraten, wie der Schöpfer die Menschheit geschaffen hat.« Ein kurzes Zögern. »Ihr wisst doch, was Primus ist, oder etwa nicht?«
Ganz automatisch antwortete Shannon: »Primus ist Gotteslästerung.«
Ein trockenes Lachen. »Magister, ganz überzeugt habt Ihr aber nicht geklungen. Ihr werdet doch wohl wissen, dass es die Ursprache gibt. Hochinteressant. In welcher Beziehung mögt Ihr zur ersten Sprache stehen? Ich könnte Euch mehr beibringen.«
Shannon schüttelte den Kopf. »Ihr habt keinen Zauber geschrieben, keinen Angriff parat, Schurke. In diesem Punkt hat mich meine Wahrnehmung noch nie getäuscht.«
Ein Scharren war zu vernehmen. »Stimmt. Ich habe keinen Text zur Hand, noch kann ich innerhalb dieser Mauern zauberschreiben. Die Chthonen haben Starhaven mit zu vielen Metazaubern versehen. Aber ich bedrohe Euch auch nicht mit Worten; ich ramme Euch ein scharfes Eisen in den Schädel, bevor Ihr auch nur zwei Wörter losgeworden seid.«
Der Mörder hatte Recht. Shannons Zauber war nicht schnell genug.
»Lassen wir das alberne Gerede«, fauchte das Wesen. »Entweder Ihr geht auf mein Angebot ein, oder Ihr zwingt mich, jeden Jungen zu töten, der im Speicher …«
Unvermittelt warf sich Shannon zu Boden. Sirrend flog etwas über seinen Kopf hinweg und schlug mit einem lauten, metallischen Klang hinter ihm gegen die Wand. Er griff hastig nach dem Magnuszauber in Noras Buch und zog daran.
Der Kriegstext sprang von der Buchseite und formierte sich zu einem Gefunkel aus Silberrunen. Shannon hatte keine Ahnung, wie der Zauber hieß oder wie man ihn handhabte, also schleuderte er ihn blindlings in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der flüssige Text entrollte sich zu einer langen Peitsche und schlug schnell wie eine Schlange zu.
Überrascht schrie der Mörder auf, als die Silberrunen ein Bücherregal trafen. Geräuschvoll schlitzte der Zauber durch die ledernen Einbände mehrerer Kodizes. Mit einem Knall explodierten die beschädigten Zauberbücher und hinterließen einen Flammenkranz aus Satzfragmenten. Shannon zuckte zurück, die Helligkeit blendete seine für Geschriebenes empfindlichen Augen.
Plötzlich war der Mörder über ihm. Und als sie sich über den Boden wälzten, versank die Welt in einem schwarzen Meer aus Ellbogen und Knien. Eine Hand versuchte Shannon den Magnus-Zauber zu entreißen, dann versetzte ihm ein harter Gegenstand einen schmerzhaften Schnitt über die Stirn.
Unter wildem Gebrüll befreite Shannon seine rechte Hand und schlug mit dem Zauber um sich. Zischend bahnte sich die Peitsche ihren Weg durch etwas Weiches.
In diesem Augenblick wurde der Druck auf Shannons Brustkorb leichter, und ein hoher, schriller Schrei erfüllte den Raum. Kaum hatte er sich aufgesetzt, da schoss auch schon eine goldbeschriebene Seite auf ihn zu. Kurz bevor sie ihm gegen die Nase schlug, erkannte er, dass sie aus Noras Forschungstagebuch stammte. Der Mörder musste das
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