Nicodemus
Mauer einriss und zu einem solchen Gebrüll anhub, dass ihm die Zähne im Maul klapperten.
Doch auf einmal stand die Welt in Flammen. Rings um ihn her brachen seltsame orange-schwarze Feuer aus den umgestürzten Steinen hervor. Von den unerträglichen Schmerzen wurden seine Instinkte geweckt. Er stieg auf, doch das Feuer erhob sich mit ihm. Flackernd und fauchend tanzten die ewigen Flammen im Luftzug seines Flügelschlags. Welch seltsame Magie verbarg sich dahinter?
Dann sah er sie hinter dem lichtkrümmenden Tarntext hervorscheinen: eine komplette Versammlung aus Pyromagiern in ihren orangefarbenen Gewändern.
Ein Hinterhalt! Er war direkt in einen Zauber geflogen, der im pyrokinetischen Idiom der Feuermagier geschrieben war. Nun bohrten sich die boshaften Worte in seine Schuppen und ließen seinen prächtigen Leib in Rauch aufgehen.
Von Panik ergriffen schlug Nicodemus mit den Flügeln. Im Osten glitzerte der Ozean in der Morgensonne. Das Meer! Vielleicht konnte es die brennenden Worte löschen.
Mit ein paar kräftigen Schlägen hatte er die Zitadelle hinter sich gelassen und flog nun hoch über dem Handelszentrum der Stadt. Doch so einfach würden ihn die Zauberschreiber nicht davonkommen lassen. Eine brennende Lanze aus gelbem Licht schnitt ihm in den rechten Flügel. Der Zauber zertrümmerte seine vierte Phalanx und riss ein Loch in die Flügelmembran. Ein zweiter Zauber traf seinen Bauch, und trudelnd stürzte er auf die Stadt zu.
Vor Angst stieß er einen Schrei aus und spie Flammen. Mit fünf qualvollen Flügelschlägen bremste er den Fall ab und nahm seinen Wettlauf zum Meer wieder auf.
Allmählich wurde ihm jedoch klar, dass der Ozean ihm nicht mehr helfen konnte. Mit jedem schmerzhaften Schlag seiner Schwingenvergrößerte sich das Loch in seinem linken Flügel. Wenn er erst einmal im Wasser war, würde er sich nicht wieder in die Luft erheben können. Dann wäre er eine leichte Beute für die Kriegsschiffe der Menschen. Schlimmstenfalls würde er das Meer gar nicht mehr erreichen. Noch ein magischer Angriff und er würde auf die Stadt hinunter stürzen.
Doch die Augenblicke zogen sich dahin, jeder Schlag bereitete ihm unerträgliche Pein. Er war kaum mehr eine Meile von der Bucht entfernt, dennoch hielten sich die Feuermagier mit dem letzten tödlichen Stoß zurück.
Langsam nahm ein Gedanke in ihm Gestalt an: Die Zauberschreiber würden ihm nicht den Garaus machen, solange er über ihrer geliebten Stadt schwebte. Sie wussten, dass sein brennender Kadaver sich zu einem Lauffeuer auswachsen und ihre glänzenden Kuppeln und feinen Türme zerstören würde.
Eine jähe Wut schüttelte seinen breiten schlangenförmigen Leib. Warum nur sollte er elendig im Meer dahinsiechen? Der Zorn klärte seine Gedanken und gab ihm die Kraft, noch einmal umzukehren und in den bewohnten Teil der Stadt zurückzufliegen.
Wenn er schon sterben müsste, dann nicht allein.
Doch da stand die Welt abermals still. Reglos hing er in der Luft. Wieder war er mehrere Personen zugleich: ein Bettlermädchen, das sich in einer engen Gasse verbirgt, die Frau eines Soldaten, die beim Anblick des brennenden Palasts schreit, und ein betagter Fischer, der um Rettung fleht.
Doch sein Schmerz und seine Qualen wuchsen, und die Welt drehte sich wieder.
Also stürzte er mit eingeklappten Flügeln vom Himmel, um die Stadt in Brand zu setzen. Es prasselten und flackerten die Wortfeuer, während die Stadt still in der morgendlichen Sonne ruhte. Bald schon würde die Welt seine grausame Schönheit in all ihrer Pracht erleben.
Voll leidenschaftlicher Wut stürzt er hinab zum Boden. Sein Aufprall erschüttert die Erde, und die Glocken läuten von allen Türmen der Stadt und läuten … und läuten.
Kapitel 10
Läuten … und Läuten … und Läuten …
endloses Läuten ringsumher …
Hoch über dem Speicherturm, in der Glockenkammer des Erasmusturms, hatte ein Lehrling die ersten Sonnenstrahlen erblickt und läutete nun den neuen Tag ein.
Nicodemus, der sich noch im Halbschlaf auf seiner Pritsche gewälzt hatte, schreckte nun vollends aus dem Schlaf.
Kalter Schweiß klebte ihm am Körper und er zitterte. Auf seinem verschlissenen Kissen fand sich ein dunkler Fleck. Er wischte sich über den Mund und stellte dabei fest, dass getrocknetes Blut daran klebte. Während seines Albtraums musste er sich auf die Zunge gebissen haben.
Im fahlen Licht tastete er am Boden nach seinen Kleidern. Immer noch verfolgte ihn der Traum; jedes einzelne
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