Nicodemus
Bild, von dem blutigen Tonklumpen bis zur brennenden Stadt flackerte vor seinen Augen noch einmal auf.
Er zog das Hemd aus und rieb sich den Schweiß ab. Die Augustluft war aber so frisch, dass er rasch nach einem sauberen Hemd griff. Von draußen drang das Flügelschlagen der Tauben herein. Verzweifelt versuchte er den Traum abzuschütteln, nahm das lange Haar beiseite und band sich die Robe im Nacken.
»Bloß ein Albtraum«, murmelte er und band sich die Schuhe zu. »Nichts weiter als ein Albtraum«, bekräftigte er, als er sich das Gesicht wusch.
Ihm brannten die Augen, und er zitterte nach wie vor am ganzen Leib; dieser seltsame Traum hatte ihm keinen erholsamen Schlaf gewährt. Doch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich fertig zu machen.
Mit dem letzten Schlag der Morgenglocke sprintete Nicodemus die Treppen des Speicherturms hinunter zum Frühstück.
Es war noch früh am Morgen und das Refektorium glücklicherweise so gut wie leer. Wenn die Halle voll war, wusste Nicodemus nie so recht, wo er sich hinsetzen sollte. Meistens war er in der Zwickmühle: Entweder aß er gemeinsam mit den Kakographen und trug somit seinen Makel öffentlich zur Schau, oder er setzte sich zu den anderen Lehrlingen und lauschte deren Gesprächen über Texte, die er nie würde schreiben können. Doch heute konnte er alleine sitzen und in Ruhe seinen Joghurt und sein geröstetes Vollkornbrot essen.
Ein paar Bankreihen weiter hatte sich eine schwatzende Schar junger Zauberer zweiten Grades niedergelassen. Das orangefarbene Innenfutter ihrer Kapuzen wies sie als Bibliothekare aus. Ein paar von ihnen diskutierten, wie man einen Runenwurmfluch loswird, aber die meisten flüsterten so lebhaft miteinander, dass es sich wohl um den neuesten Tratsch handeln musste.
Nicodemus lehnte sich etwas näher hinüber und schnappte ein paar Brocken auf: Eine ranghohe Grammatikerin war nicht zum Unterricht erschienen und keiner ihrer Schüler konnte sie ausfindig machen. Ein paar glaubten, sie sei nach Lorn auf eine geheime Mission geschickt worden, andere, dass sie von der Spindle-Brücke gesprungen sei, und wieder andere vertraten die Ansicht, dass sie sich einfach aus dem Staub gemacht hätte.
Nicodemus fragte sich gerade, über welche Grammatikerin die Bibliothekare wohl sprachen, als einer von ihnen bemerkte, dass er dem Gespräch lauschte, und sich vernehmlich räusperte. Nicodemus wandte sich schnell ab.
Links von ihm kommunizierten zwei verklärt dreinschauende Lehrlinge in einer der einfachen Zaubersprachen miteinander. Der blassgrüne Text flitzte zwischen dem Liebespaar hin und her.
Über Nicodemus’ Gesicht huschte ein leises Lächeln, als er daran dachte, wie er hier vor ewigen Zeiten mit Amy Hern am Frühstückstisch gesessen hatte. Ihr hatte es nichts ausgemacht, dass er sich ständig verschrieb, und oft hatten sie sogar über die wilden Wortblüten, die seine Kakographie trieb, gelacht.
Doch sein Lächeln erlosch, als er sich vorzustellen versuchte, eine neue Freundin zu finden. Welche Frau würde schon einen Mann wollen, dessen Prosa fast nicht zu entziffern war?
Kurze Zeit später gesellte sich John zu ihm und begann die erste seiner drei Schüsseln Haferbrei zu verdrücken. »Guten Morgen, John. Wie geht’s dir?«
Der hünenhafte John tat so, als würde er vor Müdigkeit in seine Haferschale kippen. »Du bist müde?«, riet Nicodemus. John warf ihm ein schiefes Lächeln zu und legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Ich bin auch noch müde«, sagte Nicodemus. »Ich habe geträumt, dass ich zu einem Ungeheuer werde.«
»Nein«, sagte Simple John sanft.
Nicodemus nickte. »Das hoffe ich auch nicht.« Er lächelte. »John, verstehen dich die anderen auch so gut wie ich?«
»Simple John!«, flötete Simple John und seine braunen Augen leuchteten dabei.
Verständnisvoll nickte Nicodemus. »Natürlich verstehen dich die anderen.« Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Mit deinen drei Ausdrücken kannst du mehr sagen, als ich mit dem dicksten Wörterbuch aus der großen Bibliothek.«
Lachend sagte der Hüne: »Nei-iiiiiin.«
Nicodemus stand auf, noch immer vor sich hinkichernd. »Ich muss schnell zu dem alten Herrn ins Studierzimmer. Bis heute Abend.« Nachdem er sein Geschirr in die Küche gebracht hatte, verließ Nicodemus das Refektorium und begab sich zum Grand Courtyard. Auf dem großen, grasbewachsenen Platz standen viele Ulmen und schmale, mit Schieferplatten gepflasterte Wege durchzogen das Grün.
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