Nicodemus
sie sie wieder zu einem Lächeln verzog. »Magie, Sprachen, das ist doch alles eins. Entscheidend ist, dass obwohl die neuen Sprachen wahrscheinlich mächtiger sind, sie gleichzeitig die visionäre Kraft des Schreibers einschränken. Sie verhindern, dass die Schreiber Einsicht in das Wissen der Alten Welt erlangen.«
»Und verhindern sie auch, dass wir Flüche erkennen?«, fragte Nicodemus ungläubig. »Verzeiht mir, aber ich habe erst gerade letzte Nacht damit zugebracht, einen Fluch von der Stirn zu bekommen.«
Die Druidin wischte seine Worte mit einer Handbewegung fort. »Für die Zauberer ist jeder boshafte Text ein Fluch. Auf dir lastet aber etwas anderes. Dein Fluch wurde in einer Sprache der Alten Welt geschrieben und hinterlässt somit eine schwache Aura, sichtbar für diejenigen, die der alten Sprachen mächtig sind, unsichtbar hingegen für jene, die nur die neuen Sprachen beherrschen.«
»Also schön, nehmen wir an, ich sei verflucht worden. Woran leide ich dann? Habe ich eine Art Krankheit?«
Deidre schwieg eine Weile. Dann beugte sie sich zu ihm, ganz nah, und sagte: »Ist es denn nicht ganz offensichtlich, mein Freund, dass dir jemand deine Fähigkeit zum Buchstabieren geraubt hat?«
Fassungslos starrte Nicodemus sie an. »Das ist unmöglich. Kein bekannter Zauber …«
»Dieser Fluch stammt aus der Alten Welt, wo das Wissen um den Einfluss der Worte auf den Körper noch viel größer war. In den Überlieferungen wird von Magie berichtet, die einen abgetrennten Arm wieder nachwachsen oder das Gedächtnis nach einem Schlag auf den Kopf zurückbringen kann.«
Nicodemus vermochte ihr nicht zu widersprechen. Die Alten hatten ein unglaublich differenziertes Wissen über die Welt gehabt, einschließlich der Medizin.
Die Druidin fuhr fort. »Dein Fluch gehört zu diesen alten Zaubern. Er muss in deinen Geist eingedrungen sein und dort das Wachstum verhindert oder zumindest die Entwicklung verändert haben. Jedenfalls hat es dir den Teil deines Geistes genommen, den du zum fehlerfreien Zauberschreiben brauchst.«
»Aber wer sollte mich verfluchen wollen?«
»In jedem menschlichen Königreich gibt es Frauen und Männer, die Dämonen anbeten«, antwortete sie. »Wir wissen nur sehr wenig über sie, nur dass sie einen Geheimbund gegründet haben. Sie nennen sich Separatisten, weil sie den Krieg der Sprachen entfesseln wollen. Wer dich verflucht hat, muss zu dieser Gruppe gehören.«
Ihm schnürte sich die Kehle zu. »Ihr glaubt also, dass ich der Halkyon bin.«
Deidre spähte zur Tür. »Im letzten Frühling hat mir meine Göttin befohlen, nach Starhaven zu reisen, wo ich ›einen in schwarz gehüllten Schatz‹ finden würde, ›bedroht vom Einbruch der Dunkelheit‹.« Sie deutete auf Nicodemus’ schwarzes Gewand. »Die dralische Prophezeiung weissagt, dass der Peregrin eine fremde Waise sein wird – eine, deren magische Kräfte in der Traumwelt erwachsen.«
»Aber das Keloid«, rief Nicodemus aus. »Ihr habt mit eigenen Augen gesehen, dass es nicht ein getreuer Zopf ist. Ihr habt es sogar beschworen, wart Euch mit Magistra Okeke einig, dass ich auf keinen Fall …«
Sie hielt einen Finger hoch. »Amadi Okeke hat mich lediglich gefragt, ob ich erregt sei, und ob ich dich für den Peregrin gehalten habe. Beide Annahmen waren richtig. Sie ist davon ausgegangen, dass du mit diesem Keloid nicht der Peregrin sein kannst.«
»Kann ich doch?«
Deidres Lächeln kehrte zurück. »Wir Dralier haben unseren eigenen Dialekt, für uns haben die Runen eine andere Bedeutung.«
»Und Ihr lest etwas anderes aus meinem Keloid?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Für uns bedeutet der Zopf ›kombinieren‹ oder ›wachsen‹. Wichtiger noch ist das zweite Mal in deinem Nacken, es ist identisch mit der Rune Krummer Ast.«
»Und was bedeutet sie?«
»Sie beschreibt etwas, das wild und ungezügelt ist. Also der Krumme Ast in Kombination mit dem Zopf hieße: ›wildes, unkontrolliertes Wachstum‹.« Die Druidin lachte. »Als ich dein Keloid gesehen habe, habe ich nicht geflucht, weil es dich von der Prophezeiung ausschließt, sondern weil es dich als jemanden beschreibt, der schwierig zu kontrollieren ist.«
Nicodemus schüttelte den Kopf. »Aber Ihr wisst immer noch nicht, ob mein Mal angeboren ist oder nicht.«
Die Druidin legte den Kopf auf die Seite. »Gefällt dir denn der Gedanke gar nicht, dass du unsere Prophezeiung erfüllen könntest?«
Nicodemus begann zu stammeln, brachte aber keine Antwort
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