Nicodemus
Shannon und Deidre hin und her.
Auch wenn Shannons Gesicht keine Regung verriet, schickte er doch Azure einen kurzen Satz. Die Papageiendame neigte das Köpfchen und ließ sich von dem alten Mann das Gefieder am dürren Hals streicheln. Nicodemus erkannte darin eine Gewohnheit, die auf den Mann und das Tier gleichermaßen eine beruhigende Wirkung ausübte.
Schließlich ergriff Shannon das Wort: »In unserer Prophezeiung heißt es über den Halkyon, seine Mutter sei unbekannt, die Geburt seiner magischen Fähigkeiten so gewaltig, dass sie noch auf Hunderte von Meilen zu spüren wären, und außerdem könne er noch vor dem zwanzigsten Jahr Runen in Numinus und Magnus fertigen. Alle diese Dinge treffen haargenau auf Nicodemus zu.«
Der Stolz, der in der Stimme des alten Zauberers mitschwang, ließ Nicodemus’ Wangen aufs Neue erröten.
»Aber«, fuhr Shannon fort, »Erasmus hat auch die Narbe des Halkyon beschrieben: ein kongenitales Keloid in der Form des Zopfes. Nicodemus’ Mal hingegen ist nicht ganz eindeutig. Darüber hinaus hat Erasmus geweissagt, dass der Halkyon viele Stile beherrschen und die Sprachen mit Eleganz und Gerechtigkeit führen wird. Der Halkyon wird die barbarischen Königreiche zerstören und einen Kader schmieden, mächtig genug, den wiedergeborenen Los zu vernichten.«
»Und darum kann ich gar nicht der Halkyon sein«, sagte Nicodemusbeharrlich. »Meine Kakographie verhindert, dass ich überhaupt Stil entwickeln und eine auch nur annähernd elegante Prosa schreiben kann. Eine Zeitlang haben die Zauberer geglaubt, meine Probleme würden sich auswachsen. Doch als sich herausstellte, dass meine Berührung immer zu Schreibfehlern führen würde, wussten sie, dass ich nicht der Auserwählte sein konnte.«
»Nicodemus«, sagte Deidre, »wie bist du zu deinen magischen Fähigkeiten gekommen?«
Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Im Schlaf, als ich dreizehn war.«
Fast unmerklich zogen sich die Mundwinkel der Druidin nach oben. Zur gleichen Zeit kniff die Wächterin ihre Lippen zusammen.
Deidre fragte: »Erinnerst du dich noch daran, was du in jener Nacht geträumt hast?«
»Nein«, log er.
Die Wächterin ergriff das Wort: »Als Kakograph verunstaltest du Texte, indem du sie berührst. Aber ist dir schon einmal aufgefallen, dass deine Berührung auch die Ordnung anderer Dinge stört? Sind die Menschen in deiner Nähe beispielsweise häufig krank? Oder treten die Flammen deines Feuers beständig über den Kamin?«
Gerade wollte Nicodemus sagen, dass ihm Derartiges bislang noch nicht aufgefallen sei, als Shannon ihm leise ins Wort fiel. »Amadi, Provost Montserrat hat ihn eigens beobachtet und entschieden, dass dem nicht so ist.«
Nicodemus lief es eiskalt den Rücken hinunter, eine Mischung aus freudiger Erregung und Angst. Der Provost hatte ihn in Augenschein genommen? Aber wann und wo?
Magistra Okeke blickte Shannon lange Zeit streng an. »Ich werde mir jetzt das Mal des Jungen anschauen.«
Nicodemus ergriff eine seiner langen, schwarzen Haarsträhnen. »Das ist wirklich ganz und gar unnötig, Magistra. Die Narben sind missgebildet. Und wir wissen nicht einmal, ob ich damit auf die Welt gekommen bin.«
Die Wächterin starrte ihn nur stumm an. Er wandte sich zu Shannon um, doch das Gesicht seines Lehrers war so ausdruckslos wie einSchneefeld. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Er sah zu Deidre. Aber die schenkte ihm nur ein zartes Lächeln.
Schweren Herzens drehte Nicodemus also seinen Stuhl herum, um der Wächterin seinen Rücken zu zeigen, strich sich das Haar über die Schulter und begann sein Gewand aufzubinden.
Während er die Bänder im Nacken löste, fuhr er mit den Fingern über das Keloid.
Unzählige Male schon hatte er die Narben befühlt, hatte jeden Winkel mit den Fingerspitzen nachgezeichnet. Einmal hatte er sogar zwei polierte Messingplatten so drapiert, dass er ihr Spiegelbild sehen konnte. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Narben, die blass und eben waren, bildeten Keloide dunkle Geschwulste. Nicodemus hatte einen gesunden olivfarbenen Teint, doch die Schwielen in seinem Nacken waren von einem glänzenden Blauschwarz, als hätte sich eine Kolonie schmarotzender Weichtiere in seinen Nacken verbissen.
Jeden Abend wandte er viel Sorgfalt auf sein Haar, damit es ja lang genug blieb, um die Narben zu verbergen. Beinahe fünf Jahre lang hatte er sie nun nicht mehr zeigen müssen.
Das Gesicht brannte ihm vor Scham, als er den Kragen zurückschob, um Nacken und
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