Nicodemus
Schultern zu entblößen.
»Allmächtige Göttin!«, fluchte Deidre. »Tun sie weh?«
»Nein, Magistra«, sagte er so unbeteiligt wie möglich.
Er hörte, wie die Wächterin zu ihm herüber kam. »Ich kann die Form des Zopfes in den Narben erkennen.«
Der »Zopf« war eine Rune und gehörte zu Vulgata, einer einfachen Sprache; die Rune bestand aus zwei senkrechten Linien, die mit einer dritten verbunden waren, die sich wie sich eine Schlange um die zwei wand. (Für sich allein konnte der Zopf »organisieren« oder »kombinieren« bedeuten.)
Zwar hatte Nicodemus kein Gefühl im Narbengewebe, dennoch spürte er den Druck, als Magistra Okeke mit dem Finger das Keloid entlangfuhr. »Druidin, ist dem Peregrin ein Keloid in Form eines Zopfes geweissagt?«
»In der Weissagung heißt es, er wird damit geboren«, antwortetedie Druidin. »Es hat schon falsche Peregrine gegeben, deren Mal eingebrannt war. Und so weit ich verstanden habe, weiß man nicht, ob Nicodemus’ Keloid angeboren ist.«
»Aber Magistras, in der Mitte gibt es einen Fehler«, sagte Nicodemus mit noch immer glühenden Wangen.
Magistra Okeke grunzte zustimmend. »Kind, du weißt ja gar nicht, wie recht du hast.«
Er versuchte nicht zusammenzuzucken, als sie den Hautfleck berührte. Die zweite Narbe hatte die Form eines fehlerhaften »k’s«, das vornüber gekippt war – die gleiche Form wie die Inkonjunktrune.
(Ein Inkonjunkt konnte entweder »so weit auseinander wie möglich« oder »so falsch wie möglich« bedeuten. In Kombination mit dem Zopf konnte es »bis in die kleinsten Teile zerlegen« oder »bis zum Äußersten durcheinander bringen« heißen.)
Deidre fluchte leise: »Fahr zur Hölle, Bridget!«
Entsetzt über die Göttinnenlästerung der Druidin fuhr Nicodemus herum. Das Lächeln auf Deidres Gesicht war verschwunden, mit gerunzelter Stirn stand sie vor ihm und starrte auf seinen Nacken.
»Ihr seid erregt, Deidre?«, fragte Magistra Okeke. »Vielleicht habt Ihr geglaubt, Nicodemus sei der Peregrin?«
Seufzend kehrte die Druidin zu ihrem Platz zurück. »Ja, Amadi Okeke. Die Antwort auf beide Eure Fragen lautet ja.«
»Nun, Druidin, ich teile Eure Einschätzung«, sagte die Wächterin. »Wenn dieses Mal dem Schicksal zu verdanken ist, dann ist es ein deutliches Zeichen, dass Nicodemus nicht der Halkyon ist. Aber ich frage mich, ob es nicht eine andere Bedeutung haben könnte.«
Shannon schnaubte verächtlich. »Jetzt verrennst du dich aber in etwas, Amadi.« In milderem Ton sagte er: »Danke, Nicodemus. Du kannst dich wieder anziehen.«
Erleichtert band die Nicodemus die Bänder an seinem Kragen zu.
Deidre setzte sich wieder auf ihren Stuhl. »Agwu Shannon, Amadi Okeke, verzeiht, dass ich Eure Zeit in Anspruch genommen habe.«
Magistra Okeke fragte: »Was hält der Provost von der Inkonjunktrune?«
»Er glaubt nicht, dass es eine Rune ist«, antwortete Shannon unwirsch. »Er denkt eher an menschliches Versagen.«
Magistra Okeke kniff die Augen zusammen. »Das verstehe ich nicht.«
Shannon hatte gerade den Mund geöffnet, um zu antworten, doch Nicodemus kam ihm zuvor: »Der Magister ist zu gütig, um zu sagen, dass meine Eltern mir das Mal eingebrannt haben. Es mag schändlich sein, und viele mögen deshalb auf meine Familie herabsehen. Doch lieber lebe ich mit dieser Schande, als dass noch einmal irgendjemand glaubt, ich sei der Auserwählte.«
Shannon runzelte die Stirn. »Nicodemus, wer hat dir gesagt, dass du gebrandmarkt wurdest?«
Nicodemus starrte auf seine Stiefel. »Niemand, Magister. Doch bestimmt denken die Leute das.«
Deidre sah aus dem Fenster, sie hatte anscheinend jegliches Interesse verloren.
Unterdessen musterte die Wächterin Nicodemus von oben bis unten. »Hattest du diese Narben schon immer?«
Nicodemus zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. »Daher stammt mein Beiname, meine Stiefmutter hat ihn mir als Säugling gegeben.«
Fragend zog Magistra Okeke die Brauen in die Höhe.
»In meiner Landessprache ist Weal ein alter Ausdruck für verheilte Wunden«, erklärte Nicodemus. »Mit der Zeit wurde aus Nicodemus-of-the-weals Nicodemus Weal.«
Shannon räusperte sich. »Weal hat noch eine weitere Bedeutung: das Wohl aller. Ein Antonym von Weh.«
Nicodemus lächelte tapfer. »Ich würde eher sagen, es ist ein Kontranym.«
Deidre wandte sich ihm so abrupt zu, dass er zusammenfuhr. »Warum denn das?« Das zarte Lächeln war auf ihre Lippen zurückgekehrt.
»Äh-m«, stottert Nicodemus. »N-nun ja, ein
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