Nie mehr Nacht (German Edition)
Sommerwochen wohl meine Meinung gewesen wäre. Ich stimmte meinem Vater zu. Aber ich stimmte auch meiner Mutter zu. Beide Ansichten waren verständlich und hatten etwas für sich, abgesehen davon, dass es um Jesse ging, sein Wohlbefinden, sein Glück, darum, ihm eine Freude zu machen. Gefragt worden war ich nicht, oder konnte mich nicht daran erinnern. Was ist eigentlich dir wichtiger, fragte ich mich, Erdkunde oder Algebra? Ich fand gut, dass es beides gab. Aber ich fand beides auch furchtbar.
Im Vorbeifahren sah man von Bremen so gut wie nichts. Die Fabrik für Wellensittichfutter stand wie eh und je an der Autobahn, dahinter lag eine Satellitensiedlung aus Wohnburgen, aus der Hochspannungsmaste, Schlote und ein Funkturm ragten. Bremen musste man sich denken. Als ich über die Weserbrücke fuhr, sah ich den Fluss, wie er sich durch seine Auen der unsichtbaren Stadt entgegenschlängelte, vorbei an herbstlich entflammten Gehölzen und Büschen, wo ich gern gegangen wäre. Ich sah einen Schwarm Grünfinken, an seinem auf und ab federnden Schwirrflug gut zu erkennen, und ich bekam Lust, anzuhalten und ein paar Skizzen zu machen, ließ es aber der langen Strecke wegen bleiben, und die Lust verflog. »Als ich ins Freie kam, war mir, als ob mich alle Büsche und Bäume verständen« – der Satz aus einem Brief von Runge fiel mir ein. Zu Hause in meinem Studio hätte ich nachgelesen, ob er Bremen je besucht hatte. Aber schon lag die Stadt hinter mir, und es war sowieso einerlei.
Jesse schlief oder hörte leise Musik. Ab und zu klappte ein Auge auf, dann beugte er sich vor und blickte durch die Windschutzscheibe in den Himmel. Die Sonne schien. Es war später Mittag, ein fabelhafter Oktobertag.
»Gut, Coolio. An der nächsten Raststätte fahr ich raus«, sagte ich, um ihn zum Wachbleiben zu verleiten, und er nickte.
»Coole Wolken«, meinte er irgendwann. »Krass. Da, die eine. Sieht aus wie ein Flugzeugträger, in den Torpedos grad ein Riesenloch gefetzt haben.« Und dabei machte er ein Geräusch wie ein abschmierender Kamikazejäger, ein langes Heulen, das in böses Kreischen überging.
5
D er Zufall oder das Schicksal wollte es anders. Ohne dass ich etwas von den Grabenkämpfen wusste, die um die Herbstferien entbrannt waren, rief mich etwa zur selben Zeit ein guter Bekannter an, der bei St:art arbeitete. Mittlerweile war Kevin Brennicke Artdirector des Magazins. Auf meiner Mailbox hinterließ er einen Vorschlag, der die Normandie betraf. Bei Interesse sollte ich zurückrufen. Bei Desinteresse könnte ich was erleben.
Im Département Calvados westlich von Caen und bis hinauf in den Bessin, die Gegend rund um Bayeux, gebe es eine Reihe kleiner Flüsse, die hierzulande kaum einer kenne, sagte Kevin am Telefon, als ich zurückrief. Ich hatte schon öfter für St:art gezeichnet. Kevin und ich kannten uns vom Gymnasium, hatten uns in der Oberstufe angefreundet und waren gemeinsam auf die Kunsthochschule gegangen. Wegen einer Frau, seiner späteren Frau Nana, hatten wir uns im Studium überworfen und waren einander erst fünfzehn Jahre später erneut über den Weg gelaufen, auf einem Grillfest am Alsterlauf mit dutzenden Künstlern, Galeristen, Agenten und deren Partnern und Kindern. Während ich mit dem versunkenen Jungen an meiner Seite über die Autobahn jagte, fiel mir ein, dass auf dem Fest damals auch Jesse war – warum? –, und auch meine Schwester kam irgendwann dazu, wohl um den Kleinen abzuholen. Für ihre Verhältnisse blieb sie sogar lange und unterhielt sich gut mit Kevin, den sie mochte und gar nicht oberflächlich fand. Ira und ich hatten nur wenige gemeinsame Bekannte. Ob sie sich an dem Nachmittag am Poppenbütteler Alsterufer auch mit Nana Brennicke unterhalten hatte, wusste ich nicht.
Kevin erwähnte Ira am Telefon nicht. Er rief in geschäftlicher Mission an, als Macher von St:art . Wie so oft funkte ihm auch diesmal sein Privatleben dazwischen, woran er aber keinen Anstoß nahm. Kevin war eine Frohnatur mit Tiefgang, die einzige heitere Existenz, die ich in meinem Bekanntenkreis ertrug. War er früher eher still und in sich gekehrt gewesen, so strahlte er jetzt so viel Optimismus aus, dass ich in seiner Gegenwart immer wieder Lust bekam, etwas kaputt zu machen.
»Um die Flüsse geht’s aber gar nicht, Markus. Wir haben für die Herbstnummer eine gigantische Reportage – über die Landschaft der Normandie vor und nach dem D-Day. Exzellent recherchiert, grandios geschrieben. Ich maile dir
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