Nie mehr Nacht (German Edition)
Text- und Bilddateien«, sagte er, während im Hintergrund ein paar Kinder wüteten und dieselbe Frau allmählich die Contenance verlor, deretwegen ich ihm seinerzeit die Freundschaft aufgekündigt hatte.
»Das klingt, als hättet ihr jede Menge Fotos«, erwiderte ich und dass mich alles andere auch wundern würde. Ich fragte Kevin, weshalb er dann auch Zeichnungen benötige. Er kannte meine Meinung in diesem Punkt, wir hatten uns etliche Male darüber auseinandergesetzt. Entweder es gab Fotografien oder es gab Zeichnungen. Gab es beides auf einer Blattseite, war der Zeichner – der Illustrator – nicht ich.
»Wir haben gigantisches Fotomaterial, und ob«, sagte Kevin, dem jede Bescheidenheit abging. Er hatte andere Vorzüge.
»Warte, ich geh raus in den Garten, es ist grad etwas lärmig hier, die Kleinen spielen Menschenfresser. Liebling, nimm ihnen die Schildkröten weg, okay? Ich geh kurz raus, ja, es ist wichtig. So, also, stell dir vor: Omaha Beach. Wir haben alte, nie gezeigte Fotos von den Strandabschnitten, wo sie gelandet sind, Omaha, Utah, schon ’24, ’27, usw., die ganzen dreißiger Jahre, die vierziger, und dann ’44, bumm! Das ganze irrsinnig-abscheuliche Gemetzel. Operation Overlord. Der längste Tag. Wie man es kennt. Auch von Sword, Juno und Gold Beach. Wie es da vorher aussah und dann mittendrin. Die reinste Hölle. Aber das ist nur die Hälfte. Ja, ich komme! Markus, das wird heute nichts, ich muss auflegen. Wir sind eingeladen, mit den Kiddies, und du kennst Nana in Hektik. Es ist eine Wahnsinnsgeschichte, wuchtig, ergreifend, poetisch. Eine wichtige Sache. Wir haben Fotos, Dokumente, Zeitzeugenberichte von 1924 bis heute. Bis heute! So umfassend und packend, ich glaube wirklich, so ist der D-Day bislang nicht gezeigt worden. Du hörst von mir«, sagte er ruhig und gefasst und scherzte immer noch, als die Kinder weiter ihre Haustiere quälten und seine Frau angesichts des Tohuwabohus und des unbeirrt im Garten telefonierenden Ehemannes einen Kreischanfall bekam. Gekreischt hatte sie immer schon.
Tatsächlich wollte Kevin für diese Nummer Zeichnungen von mir haben, sie würden jedoch für sich stehen, kein Foto und nur wenig Text kämen ihnen in die Quere. Als er das nächste Mal anrief, kam er auf die Flüsse zurück und erzählte, was er sich vorstellte.
In der Gegend um Caen und Bayeux gab es eine Handvoll kleiner Flüsse, die sich alle durch den Bessin schlängelten und irgendwann in den Ärmelkanal mündeten, Aure, Vire, Orne und andere, von denen man noch nie gehört hatte, die meisten davon nur eingeschränkt schiffbar, ziemlich verwunschen, das reinste Paradies für Fischreiher und Biber und Fischreiher- und Biberbeobachter. Aber.
Es gab fünf, vielleicht sechs Brücken, die es in sich hatten. Über die Aure beispielsweise führte ein paar Kilometer südlich von Formigny eine alte Bahnbrücke, die nur ein paar Jahre jünger war als die Ironbridge bei Birmingham.
»Kennst du die Ironbridge?«
Ich kannte Zeichnungen von der Ironbridge, hatte sie mit eigenen Augen aber noch nicht gesehen. Kevin erzählte von einer Reise mit Nana, Noah und Naomi an den Severn, um die älteste Eisenbrücke der Welt zu bestaunen. Ich hörte ihm zu und war voller Mitgefühl. Nana war schön, sie war klug, und sie war so energisch, dass ihr manchmal der Schleim aus der Nase sprang. Sie war zum Fürchten. Dass Ira sich je mit ihr unterhalten hatte, konnte ich mir nicht vorstellen.
Kevin kam zum Thema zurück: Er habe haufenweise Fotos von allen fünf oder sechs Brücken, um die in der Gegend um Caen und Bayeux besonders erbittert gekämpft worden sei, Fotos aus allen Perspektiven und in jedem Licht. Keins, aber auch gar keins mache deutlich, worauf es ihm ankomme.
Ein paar Tage später trafen wir uns. Auf einer Michelinkarte, die er mitgebracht hatte, zeigte er mir, wo die Flüsse verliefen, Aure, Vire, Orne, ein Flüsschen namens Drôme, und wo die mächtigen Überreste des Eisenbahnviadukts von Souleuvre standen. Eiffel hatte es entworfen. Fassungslos vor Begeisterung über den Schatz, den er entdeckt hatte, schüttelte Kevin den Kopf.
»Diese Brücken, mein Lieber, waren im Sommer ’44 sowas wie das Tafelsilber der Gegend, in der die Alliierten landeten«, sagte er. »Ich weiß nicht genau, wie viele es waren, aber es müssen Zigtausende gewesen sein, die ihr Leben gelassen haben, um eine dieser uralten Stahlkonstruktionen entweder halten, sprengen oder erstürmen zu können, Amerikaner,
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