Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
Vom Netzwerk:
auf die Tische stellte, damit seine Frau und Tochter darunter wischen konnten. Und als er »Obrigado!« rief und wir hinauswankten, um an der Kehrwiederspitze noch etwas Nachtluft zu schnappen, hatte ich die Aufnahmen von den Flüssen und Brücken und die Straßenkarte von der Basse-Normandie eingesteckt.

6
    K evins Michelinkarte lag zur Hälfte aufgefaltet auf dem Tisch, als Jesse von den Toiletten zurückkam und sich zu mir auf die rote Kunstlederbank setzte. Er fragte, ob ich schon bestellt hätte, und ich schüttelte den Kopf.
    Es gab keine Tischbedienung, es gab ein Büfett.
    »Komm, wir suchen uns was aus«, sagte ich, wollte ihm aber vorher noch die Route zeigen und bis wohin ich es heute gern schaffen würde. Er war jetzt beinahe ganz wach und wirkte ausreichend aufnahmebereit.
    Ich zeigte ihm, wo wir waren – kurz vor Osnabrück –, dann Aachen – wo wir über die Grenze fahren würden –, darauf Mons – wo ich in Belgien übernachten wollte – und schließlich, nach einer langen Strecke, die mein Zeigefinger durch Nordfrankreich fuhr und die Jesse Zentimeter für Zentimeter mitverfolgte …
    »… Caen.«
    »Das ist total weit«, sagte er angewidert, ließ sich gegen die Lehne sinken und klappte den Kopf in den Nacken.
    »Na ja, darum ja die Übernachtung«, meinte ich. »Wenn wir morgen nach dem Frühstück gleich loskommen, sind wir am frühen Nachmittag in der Normandie. Ich gucke mir die erste Brücke an, die südlichste, und dann …«
    »Ist nicht dein Ernst, oder?« Er wischte sich die Haare aus der Stirn und starrte mich an. Dann starrte er die Straßenkarte an. »Wo ist diese Brücke denn, wenn es die südlichste ist?«
    Ich zeigte es ihm. Das alte Viadukt von Souleuvre. Die Ruine lag rund fünfzig Kilometer südwestlich von Caen, die A84 führte genau darauf zu. Die nächste größere Stadt war Saint-Lô.
    »Das ist ein riesiger Umweg! Das Hotel ist am Meer. Und dieses Viadukt ist hier unten, im Nirgendsland! Ich meine, bitte! Du könntest mich zum Hotel bringen. Oder mich in Caen rauslassen, damit mich Niels und sein Vater abholen können. Ich will nicht zu irgendeinem verfallenen Viadukt fahren.«
    Das Hotel L’Angleterre lag bei Le Mesnil. Leider war der Ort nicht, wie er es sich vorstellte, in der Nähe von Caen. Ich zeigte es ihm: Er lag ziemlich genau nördlich von Bayeux, unmittelbar an der Ärmelkanalküste, nur wenige Kilometer östlich von Omaha Beach. Um ihn nicht mittels Zahlen zu bevormunden, was ich selbst immer gehasst hatte, fragte ich, wie weit es nach seiner Schätzung von Caen bis Le Mesnil war.
    Er fixierte die Karte, schätzte die Entfernung ab und presste schließlich eine Zahl hervor, die es ziemlich genau traf.
    »Also müsste ich fünfundvierzig Kilometer hin und fünfundvierzig Kilometer zurück fahren, bloß um dich zu Niels und seiner Familie zu bringen. Und wäre dann erst wieder in Caen. Ich hätte deine Strecke doppelt hinter mir, meine aber noch zweimal vor mir, und du würdest währenddessen am Strand rumtoben und durch das Hotel geistern. Findest du das okay?«
    »Nein«, maulte er und zog die Mundwinkel nach unten. »Aber für dich ist es okay, wenn ich mit dir einen halben Tag lang durch die Gegend fahre, während meine Freunde ganz in der Nähe sind. Ich meine: Was gehen mich deine Brücken an?«
    »Viel.«
    »Klar. Gar nichts gehen die mich an. Aber du fährst eben, du bestimmst, und ich muss mit ins Nirgendsland.«
    Niemandsland, sagte ich zu ihm, wennschon, dennschon. Entweder Niemandsland oder Nirgendwo. Ein Niemandsland liege immer an einer Grenze. Es gehöre weder zur einen noch zur anderen Seite, zu niemandem. Das könne man von Souleuvre nicht behaupten. Es gehöre eindeutig zu Frankreich. Und das sei eben der Deal gewesen zwischen seinen Großeltern, ihm und mir. Er konnte mitkommen nach Nordfrankreich, wenn er mich in Ruhe meine Arbeit machen ließ. Unter Ruhe verstand ich aber etwas anderes, als ihn durch die Weltgeschichte zu chauffieren.
    Wenn ich mich reden hörte, konnte ich meinen Vater hören, wie er auf Ira und mich eingeredet hatte, und konnte mich gleichzeitig in Jesse und ihn hineinversetzen, ganz als wäre ich zur einen Hälfte der maulende Junge und zur anderen der Reden schwingende Alte. Nur mich selbst hörte ich dabei nicht oder nur sehr, sehr weit entfernt. Es kam mir so vor, als würde ich weniger werden, je weiter ich mich entfernte – wovon entfernte? Mir fiel nichts ein außer Iras Haus, außer der Garage.
    Der

Weitere Kostenlose Bücher