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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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Weinbergschnecke?«, fragte ich.
    »Gut. L’Orgueilleuse war im Winter in meinem Zimmer, aber jetzt ist sie im Garten. Auf zwei Bildern steht der Name von Jesse und dir, das find ich echt merkwürdig!«
    Sie zeigte es mir, und ich tat, als wäre mir noch gar nicht aufgefallen, dass auf Xus Pegasusbrücke eine Zeichnung von der Pegasusbrücke, auf seiner Brücke am Gui eine gezeichnete Brücke am Gui und hier wie dort der Name Lee zu sehen war.
    »Schon seltsam, findest du das auch, kleine Madame?« Wie aus einem der Bilder herausgetreten, stand hinter uns mein Vater.
    Cat zog mich am Ärmel und flüsterte: »Wer ist der?«
    Zwischen der Galerie der Gegenwart und der Kunsthalle befand sich das Kunstforum mit seiner Impressionisten-Ausstellung. Von dort habe meine Mutter angerufen, berichtete mein Vater, während wir durch den unterirdischen Flur eilten.
    »Verlaufen!«, lachte er kurzatmig. »Sobald sie das Haus verlässt, verliert deine Mutter die Orientierung. Und plötzlich steht sie vor einem Cézanne.«
    Wir mussten die Eintrittskarten vorzeigen. Mein Vater klappte seine Brieftasche auf, und ich sah, darin steckte ein Foto von Lilith und mir. Es war das Bild, das der Maschinist von der Kitty in Bremerhaven gemacht hatte. Wir standen dicht beieinander auf dem Kai, Lilith mit ihrer Mütze, ich fast mit Vollbart, im Hintergrund überall Schnee und das Fährschiff, das es nicht mehr gab. Zusammen mit einem Brief, den ich seit einem halben Jahr nicht lesen wollte, hatte Lilith das Foto meinen Eltern geschickt.
    »Du rechts, ich links«, sagte mein alter Herr.
    Mal gemeinsam, mal getrennt schritten wir Ausschau haltend durch die Räume. Ich versuchte, die Gemälde nicht zu beachten, heftete die Blicke stattdessen auf die Gesichter der Leute, die sich aus einer Traube vor einem Bild lösten und weitergingen zum nächsten. Sie waren shoppen, Jesse wollte seine Geburtstagskasse plündern; wenn er etwas gefunden hat, dachte ich, wird er eine Plastiktüte voller Klamotten dabeihaben und draußen warten. Keine Plastiktüte kam in die Nähe eines Cézanne.
    Sie waren nirgends, und von den Gemälden war genauso wenig zu sehen. Dicht gedrängt standen Leute vor einem Obstgarten im Herbst oder einer Elster im Schnee auf einem Gatter.
    »Diese Sache mit Peru, von der dein Freund Kevin immer wieder anfängt, diese Nazca-Linien, Markus«, sagte mein Vater, »willst du dir das nicht noch mal durch den Kopf gehen lassen?«
    Er stand mit dem Rücken zu einer Landschaft von Monet, über der ein so blauer Himmel leuchtete, dass es mich von den Füßen hob, sobald das Bild für eine Sekunde zu sehen war. Was ich wollte, wusste ich nicht. Ich wäre gern ein Vogel gewesen, eine Seemöwe, konnte aber keine sein. Auch ein halbes Jahr nach meiner Rückkehr wusste ich nur, was ich nicht wollte. Ich wollte nicht nach Peru, um die Nazca-Linien zu zeichnen, wollte überhaupt nichts zeichnen, wenn es sich nicht einfach ergab. Ich wollte Französisch lernen.
    »Endlich, da drüben sind sie«, sagte mein Vater. »Du kannst von Glück reden, dass ich noch so gute Augen habe.«
    Umgeben von hin und her laufenden, hier und dort stehen bleibenden und dann weiterschlendernden Leuten saß meine Mutter neben Jesse auf einer Lederbank in der Mitte des Raums und rührte sich nicht. Ein Bild, dachte ich, ein Trugbild völliger Ruhe.
    »Zwei Stunden lang sind wir durch die Läden gerannt, und wofür? Der Junge kann sich nicht entscheiden. Er ist wie du«, sagte sie zu mir. »Und wie du auch!«
    Mein Vater nahm ihre Hand und zog sie hoch.
    Auch Jesse stand auf. »Ich hab mich ja entschieden, ich will bloß noch abwarten! Ich meine, Vorfreude und so.«
    »Na dann warte ab. Können wir?«
    Fest blickte sie den Jungen an, und ich beobachtete ihre Mutteraugen und sah die Ruhe darin und dass sie davon genauso erfüllt war wie ich. Sie wusste, wie sie wollte ich von Glück nicht nur reden können, und so nickte sie und legte den Kopf schräg, damit ich wusste, wohin.
    »Wir gehen schon vor. Treffen wir uns am Eingang?«
    Ich nickte. Sie hakte sich bei meinem Vater ein, und er winkte.
    Jesse und ich gingen in den Raum, in dem die Sisleys hingen. Ich zeigte ihm mein Lieblingsbild aus dem L’Angleterre , Die Überschwemmung der Seine bei Port-Marly , und er erkannte es wieder, lächelte und gab sich Mühe, nicht gelangweilt zu wirken.
    »Da seid ihr ja!«, sagte Lilith und stellte sich zu uns. »Jesse hat mir seine Lieblingsläden gezeigt. Lauter schöne Sachen. Wir

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