Nie mehr Nacht (German Edition)
demjenigen seiner Mutter glich und doch gefestigter, weniger verletzlich war. Ob ihm schlecht sei oder etwas fehle, fragte ich mehrmals, als wir auf der Autobahn nach Bremen waren. Weil er jedoch jedesmal verneinte, ließ ich ihn in Ruhe, fand mich damit ab, dass ich am Steuer zu sitzen hatte, und ertappte mich dabei, dass ich lieber umgekehrt und ohne ihn gefahren wäre.
Es war Zufall, dass ich als Zeichner in die Normandie geschickt wurde, und es war Zufall, dass auch der Junge in die Normandie fahren wollte, es war ein solcher Zufall, dass ich gar nicht anders konnte, als Jesse mitzunehmen.
Etwas nördlich von Bayeux lag ein altes Strandhotel. Das L’Angleterre sollte im nächsten Frühjahr verkauft und instand gesetzt oder aber abgerissen werden. Der Vater von Jesses bestem Freund Niels war ein dänischstämmiger Ornithologe, er hieß Juhl. Niels, seine Eltern und zwei Schwestern verbrachten die Herbstferien an der nordfranzösischen Küste und wohnten dort in dem leerstehenden Hotel. Juhls hielten das, was von dem Haus übrig war, in Schuss, heizten die Zimmer, besserten etwas aus, machten den Hotelgarten winterfest und ließen Einbrecher und durch die Dünen streifende Jugendliche gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen. Dafür bewohnte die Familie umsonst eine ganze Etage im L’Angleterre . Niels’ Vater, der Ornithologe, hatte so schon öfter Berufliches mit einem Familienurlaub verbunden, im Brandenburgischen und an der Nordsee, vor allem aber in Polen und Skandinavien hatten seine Frau und er Hotels gehütet, die im Herbst und Winter leer standen. Dabei machte sich Herr Juhl gar nichts aus heruntergekommenen Küstenpensionen und verlassenen Strandhotels. Als Vogelkundler interessierten ihn einzig die Rastplätze der Seevögel in der Nähe.
So hatte es Jesse seinen Großeltern erzählt. Und er hatte den Wunsch geäußert, Niels und dessen Familie in dem Hotel am Ärmelkanal zu besuchen, ein Wunsch, der insofern ein kleines Wunder darstellte, als es sich Jesse so gut wie abgewöhnt hatte, Wünsche zu äußern.
Nicht dass er keine hatte. Von seinem Prinzregententaschengeld kaufte er sich Schuhe oder Klamotten. Mal sparte er auf ein Mountainbike, mal auf eine neue Spielekonsole. Fragte man ihn aber zu Weihnachten, seinem Geburtstag oder einfach nur so, ob er einen Wunsch hatte, dann sagte er entweder nichts oder sagte einem genau das ins Gesicht.
»Nichts.«
In den drei Monaten, die Jesse nach dem Tod seiner Mutter nicht zur Schule gegangen war, hatte ihn Niels fast täglich besucht. Wenn sie in seinem Zimmer Musik hörten, lagen sie auf dem Fußboden und rangelten zu »Polly« oder »Come as you are«. Nirvana war die Band, der sie alles glaubten, und dabei spielte eine nicht unerhebliche Rolle, dass es Nirvananicht mehr gab, seit sich der Sänger mit einem Gewehr ins Gesicht geschossen hatte. Da waren sie noch gar nicht auf der Welt gewesen. Stundenlang konnten sie auf einem Mauervorsprung vorm Haus hocken, sich ab und zu knuffen und schieflachen, wenn mit Helm und Ellbogenschützern Niels’ kleine Schwester Catinka und eine ihrer Freundinnen auf ihren Kickrollern vorbeibretterten. Oder sie skateten selbst durch die Siedlung am Helmut-Thielicke-Wäldchen, so lange, bis es meine Mutter vor Sorge nicht mehr aushielt und meinen Vater mit dem Wagen losschickte, damit er nach den Jungs sah und sie zurücklockte in die Nähe des Hauses oder wenigstens auf die Straße, damit man sie vom Küchenfenster aus im Blick behalten konnte.
Aber sie lernten auch. In der Schule besorgte Niels Bücher, kopierte Diagramme und Zeichnungen, Referate und Abschriften von Klassenkameraden, die in Gesellschaft oder Mathe besser waren, und brachte alles Jesse. In Deutsch stand Bölls Kriegsprosa auf dem Lehrplan, Der Zug war pünktlich , Wo warst du, Adam? , Das Vermächtnis . Aus dem Zimmer im ersten Stock drang Stille in den Flur, wenn die beiden die Schlacht um Stalingrad durchgingen. Irgendwann steckten sie den MP 4-Player in die Anlage, drehten sie laut, um zu verkünden, dass sie es geschafft hatten. Wie durchs Schulgebäude der Gong dröhnten dann Limp Bizkit und andere Bands, die sie gerade mochten, durch Iras Haus, in dem jetzt Jesse mit seinen Großeltern lebte.
Zwischen Hamburg und Bremen auf der schnurgeraden, endlos scheinenden Autobahn Richtung Westen fahrend, schaltete ich auf der Suche nach Musik, auf die wir uns einigen konnten, das Radio ein. Seit geraumer Zeit sah Jesse aus dem Fenster. Plattes Land lag
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