Nie mehr Nacht (German Edition)
Junge schien mich genauso wenig zu hören. Ob ihm aufgefallen war, dass wir uns über Brücken in die Haare gerieten, während wir selbst auf einer Brücke saßen? Autos, Lastwagen und Motorräder preschten unter uns hindurch. Die Raststättenbrücke überspannte sechs Spuren. Es gab darauf ein Restaurant, ein Café, eine Schmuckhandlung, ein Spielwarengeschäft, einen Souvenirladen. Durch die Fensterfront, auf die schwarze Schwalbenattrappen gepappt waren, blickte Jesse hinunter und sah traurig aus. Er hatte lange, braune, nicht wie Ira blonde Wimpern. Stumm schien er zu brüllen vor lauter Aussichtslosigkeit. Was ich ab jetzt tue, muss ich vorausberechnen, dachte ich.
»Komm, holen wir was zu essen«, sagte ich versöhnlich. »Du hast noch nicht mal gefrühstückt. Wie wir’s machen, lass uns während der Fahrt besprechen. Wir wollen doch beide eine schöne Zeit verbringen.«
»Keinen Hunger«, sagte er, stand aber auf und ging mit. Und während er dann ein Wiener Schnitzel mit Pommes frites aß und dazu ein Ginger-Ale trank, sein Lieblingsgetränk und das Lieblingsgetränk seiner Mutter, studierte ich noch mal die Karte und suchte darauf nach der Alternativlösung, dem Kompromiss.
Man werde da sicher zu einer Lösung finden, sagte mein Vater gern. Oder: »Du solltest in diesem Punkt vielleicht etwas kompromissbereiter sein.« Jemanden, der in seinen Augen unbarmherzig war, lächerlich, frivol oder grausam, so einen bezeichnete mein Vater als kompromisslos. Einer wie Jesses Erzeuger, der Mann aus Tel Aviv, der machte keine Kompromisse. Ein kompromissloser Egoist. Einmal hatte sich mein Vater dazu hinreißen lassen, auch den Freitod seiner Tochter als kompromisslos zu bezeichnen, als Wüten gegen sich selbst, womit Ira jedes Bedürfnis der Menschen in ihrer Umgebung in den Wind geschlagen habe. Fast eine ganze Woche lang hatte meine Mutter daraufhin nicht mit ihm geredet, wie ein weißer Schatten war er durchs Haus geschlichen, unversorgt, unbeachtet, im zerknitterten Hemd.
Beiläufig hatte ich ihnen von dem Auftrag erzählt. Im Oktober würde ich wohl für ein paar Tage nach Nordfrankreich fahren, um dort ein paar alte Brücken für St:art zu zeichnen, für Kevins Magazin.
»Nein!«, hatte da mein Vater gelacht. »Wann denn?«
Es ergab sich eine Überschneidung von acht Tagen mit den Herbstferien der Hamburger Schulen.
»Dann könntest du unseren Infanten ja mitnehmen!«
Ich wusste nichts von ihren Auseinandersetzungen mit Jesse über Niels und die Ferien in der Normandie, verstand daher nicht, wie er darauf kam, und noch weniger, wieso meine Mutter wortlos vom Tisch aufstand und in die Küche verschwand.
»Traust du dir das zu?«, fragte mein Vater, nachdem er mich ins Bild gesetzt hatte. »Immerhin wärst du acht Tage lang verantwortlich für ihn.«
Ich hatte keine Ahnung, ob ich mir zutraute, acht Tage lang mit Iras Sohn allein zu sein. Die Vorstellung reizte mich, ja, das tat sie, erstaunlich. Ich hatte das Gefühl, damit weniger meinen Eltern als vielmehr meiner Schwester eine Freude zu machen. Außerdem würde ich Jesse einen Wunsch erfüllen, wann hatte ich dazu je Gelegenheit gehabt?
Andererseits hatte ich Angst, nicht zum Arbeiten zu kommen. Und in Frankreich war ich zuletzt vor zwanzig Jahren gewesen, als ich Ira besucht hatte, die damals in Versailles lebte und Französisch und Bretonisch lernte. Ich sprach weder Französisch, noch kannte ich Niels Juhls Eltern. Aber das war nicht meine größte Sorge. Wenn ich meinem Vater gegenübersaß, spürte ich die Angst in mir aufsteigen, dass mich Jesse zu sehr an Ira erinnern, dass wir irgendwann von nichts anderem würden sprechen können als von seiner toten Mutter.
Meine Mutter war dagegen. Es war ihr zu riskant. Lieber wollte sie selber fahren. Als sie zurückkam und sich zu uns setzte, war sie innerlich so aufgewühlt, dass ihr das Atmen schwerfiel. Zwischen dem Hutschenreuther-Geschirr stand eine Lilie auf dem Tisch, ihre Lieblingsblume. Meine Mutter sah nur die Lilie an, keinen von uns. Dann schnitt sie mit einem Obstmesser von einer dicken gelben Kerze die Wachsränder ab.
Ich sah, sie schämte sich, weil sie geweint hatte.
Ich schämte mich genauso.
»Ich glaube, ich schaffe das nicht«, hatte ich zu meinem Vater sagen wollen, aber nicht gesagt.
»Schließen wir einen Kompromiss«, sagte er. »Es ist ja doch wohl eines klar: Entweder mit uns oder mit Markus wird der Junge nach Frankreich fahren. Das ist doch ein Punkt, von dem aus man
Weitere Kostenlose Bücher