Nie mehr Nacht (German Edition)
nächtlichen Reede blickte, sah ich die beiden Möglichkeiten, die sich nun boten, deutlich vor mir.
An der Pier lagen zwei Schiffe, beide über Nacht fest vertäut, beide verlassen und dunkel. In einiger Entfernung lag die Kitty , die am nächsten Tag zum letzten Mal auslaufen sollte. Unmittelbar vor mir, wo die jetzt hochgeklappte Rampe für Pkw und Lkw hinunterführte und wo ich Lilith zum ersten Mal gesehen hatte, lag längsseits festgemacht an der Hafenpromenade die Tragflächenfähre, von der sie in ihrem Brief schrieb. Das neue Fährschiff hieß ebenfalls Kitty . Am nächsten Tag, wahrscheinlich schon frühmorgens, fuhr die Kitty II über den Ärmelkanal nach Poole, nach England.
In einem Bistro an einem abgelegenen, mit überschneiten Platanen bestandenen Platz aß ich etwas zu Abend und las noch einmal Liliths Brief. Auch die Ansichtskarte von der Kitty , die sie noch mal mitgeschickt hatte, zog ich aus dem Umschlag, lehnte sie an die Weinkaraffe und trank, während ich auf das von dem Schiff durchpflügte blaue Wasser sah. Ich betrachtete die Fotografie und stellte mir vor, den Augenblick mitzuerleben, als das Bild aufgenommen worden war. Ich malte mir aus, dass unter den Menschen, die auf der Überfahrt nach Poole den Helikopter mit dem Fotografen gesehen hatten, auch Lilith gewesen war, ein Tag vor zehn oder fünfzehn Jahren, der Tag vielleicht, als Ira, Kevin und ich mit dem kleinen Jesse und seinem Bobbycar an der Bunthäuser Spitze spazieren gingen. Lilith lief mit Helm, Sicherheitsschuhen und Walkie-Talkie durch das Schiff, auf den Parkdecks zwischen Autos, Bussen und Lastwagen hindurch, sie stieg hinunter in den Maschinenraum und wieder hinauf und lief immer weiter durch ein Labyrinth aus stählernen Gängen, in dem sie jeden Winkel so gut kannte wie ich im L’Angleterre jeden Flur, jedes Zimmer. Ich merkte, wie die Traurigkeit sich anschlich. Mir kamen die Tränen, und mit einem Mal verstand ich, warum der junge Xu geweint hatte. Das Gedächtnis verlangte einen hohen Preis, um sich etwas einzuprägen, und einen noch höheren, damit es dasselbe wieder vergaß.
Ich bat um die Rechnung und fragte die Bedienung nach einem Hotel oder einer Pension in Hafennähe, wo man auch ohne Papiere ein Zimmer bekam. Meine Brieftasche sei mir gestohlen worden, genug Geld aber hätte ich, sagte ich zu der freundlichen, dick geschminkten Kellnerin und zog ein paar Scheine aus dem Anorak. Sie kniff die Augen zusammen und glaubte mir kein Wort. Ich gab ihr ein unverschämt hohes Trinkgeld, und sie gewährte mir dafür einen Blick in ihr unaufgeräumtes Herz.
»La belle Kitty !« Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf die Ansichtskarte wie mit einem Zauberstab. »Warten Sie. Ich sehe nach, ob etwas frei ist. Gegenüber haben wir Fremdenzimmer.«
Zehn Minuten später stand ich im dritten Stock am offenen Fenster und blinzelte durch den vom Himmel stürzenden Schnee die Straße hinunter zum Hafen. Die schöne Kitty ! – da lag sie im Dunkel der Nacht und war ein verrostetes Omen.
Noch einmal blauer Himmel. Über Cherbourg schien die Wintersonne, und die Luft hatte eiskalte und gleich daneben ganz warme Kammern, durch die ich wohlig tauchte, als ich am nächsten Morgen vorbei an eingeschneiten Autos, die wie am Straßenrand liegengelassene Rieseneier anmuteten, zum Hafen hinuntereilte. Die Kitty war nicht mehr da. Sie hatte abgelegt, während ich in meinem Fremdenzimmerbett durch den Nebel der Träume sonst wohin getrieben war.
Es waren bange Minuten, bis ich zur Hafenpromenade kam und erst dort erkannte, dass die Tragflächenfähre bereits ausgelaufen war, während an ihrem Liegeplatz die alte Fähre festgemacht hatte. Ihr Bugtor stand offen, und die Zufahrtsrampe war heruntergeklappt. Ein paar Arbeiter luden im Schiffsbauch Maschinenteile und ölverschmierte Geräte auf Anhänger, die ein kleiner roter Traktor an Land zog. Ich fragte mich, ob sie schon an Bord war. Auf der Pier stand mit einem Kaffeepappbecher in der Hand die Frau, mit der Lilith fast bis zum Park gegangen und die dort auf einmal verschwunden gewesen war. In ihrer Borduniform mit dem KITTY- Aufnäher über der Brust stand sie da, als wären keine drei Wochen, kein einziger Tag seither vergangen. Ich sprach sie an und fragte sie, wann die Kitty abfuhr, und sie lächelte, schien mich wiederzuerkennen und antwortete mit sehr tiefer Stimme, in drei Stunden solle ich an Bord sein. Dann sei alles fertig und müsse es auch losgehen, da die
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