Nie mehr Nacht (German Edition)
wirklich sehnte, war nicht kalter Rauch, sondern Wärme und Nähe. Eine Zeit lang zeichnete ich, wahrscheinlich in dem asiatischen Lokal oder Imbiss und vielleicht nur mit der Spitze eines Stäbchens auf die Tischdecke. Ich zeichnete die Hand, die so warm gewesen war. Aber auch dieses Blatt – wenn es denn eins gab – ließ ich liegen, unbekannt, wo.
Schon saß ich im Taxi. Wer hatte es gerufen? Die Fahrerin hörte Radio, Berichte vom Konflikt zwischen Japan, China und Taiwan um eine Gruppe felsiger Inseln im Ostchinesischen Meer. Du bist selber eine Felseninsel, dachte ich, unbewohnt, uneinnehmbar. Und weinte im Dunkeln auf dem klebrigem Rücksitz, als wieder das Chanson von Babet gespielt wurde.
Über Nacht in Cherbourg zu bleiben, kam für mich nicht in Frage. Plötzlich stand ich wieder in dem Bahnhof und blickte hinauf zu der großen Uhr. Es war halb neun. Sieben Stunden vergangen! Plötzlich saß ich wieder im Zug. Und mit einem Mal empfand ich alles, was passiert war, als unsagbar peinlich.
Ich schämte mich für alles, was in den vergangenen zwölf Monaten geschehen war, schämte mich für meine Eltern und ihre Fühllosigkeit, schämte mich aber vor allem für mein Unverständnis ihnen und Jesse gegenüber. Der Zug fuhr durch die Nacht. Ich kam wieder durch Carentan. Ich stellte mir Annik mit Serge vor, wie sie am Strand entlangliefen und im Schutz einer Düne miteinander schliefen. Ich schämte mich für Serge.
Und ich stellte mir Jesse mit Margo vor, wie sie im Sand derselben Düne rangelten und irgendwann erschöpft voneinander abließen und in den Nachthimmel blickten. Ich sah Jesse in seinem Jugendzimmer vor mir, in dem Haus, in dem er mit seiner Mutter gewohnt hatte und das einmal sein Haus und nicht mehr das seiner Großeltern sein würde. Mit Niels lag er auf dem Fußboden, sie hörten Musik. Unten im Erdgeschoss saßen meine Eltern, sahen fern oder hatten Freunde zu Gast, DeWitts vom Bodensee, Lewandowskis, mit denen sie über den Jungen redeten. Es klingelte, und Jesse kam die Treppe runtergesprungen und öffnete, machte im festen Glauben auf, es wäre Margo.
Aber sie war es nicht.
»Wer ist es denn?«
Meine Mutter rief aus dem Flur. Schon bog sie um die Ecke.
Herein kam ich. Doch ich war nicht allein.
10
D rei Wochen vergingen. Vorüber zog ein November an der See, grau wie überall nördlich des Meridians. Und ich, im L’Angleterre , weit nördlich davon, was tat ich in der Zwischenzeit?
Nicht viel. Solange die angekündigten Herbststürme ausblieben und es lediglich nieselte, wollte ich Garten, Hof und das Hotel winterfest machen, wie ich es mit Monsieur Flaubert vereinbart hatte. Jeden Morgen, bis die Bäume kahl waren, harkte ich das Laub zusammen, häufte Blätter und Zweige in eine betagte Schubkarre und fuhr alles durch die Pforte auf den Steilhang, wo eine Kompostgrube aus Zement ausgegossen war. Eines Mittags flog lautlos und riesig, keine zehn Meter über meinem staunenden Gesicht, ein einzelner Storch die Küste entlang Richtung Westen. Weil ich Ove Juhls Einsilbigkeit vermisste, zählte ich an seiner statt die Vögel. Kraniche – keine. Reiher – keine. Störche – einer. Auch die Elstern machten sich rar, und selbst Krähen sah ich nur noch wenige in den Schwärmen der Seemöwen, die mir darüber manchmal ebenso verwundert schienen.
So gut wie nichts mehr wuchs in den Beeten. Die Erdbeerblätter wurden gelb und faltig, dann braun, rissig und schließlich stumpfschwarz wie das Erdreich. Im Gerätehaus suchte ich nach Gartenwerkzeugen, fand aber zunächst keine und begann, in der kleinen Werkstatt auszumisten. Im Licht, das durch das Fensterauge und das nur halb zu öffnende Holztor fiel – die andere Hälfte war zugemauert –, entdeckte ich schließlich auch Spaten und Schaufel. Damit grub ich eine Woche lang die im immerwährenden Schatten entlang der Mauer liegenden Rabatten um. Es war meine erste Gartenarbeit seit über vier Jahren, seit ich Ira dabei half, die Magnolie einzupflanzen, die ihr Jesses Pflegeeltern zum zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Ob Lewandowskis Purpurmagnolie noch lebte, wusste ich nicht, aber ich hätte in diesen Tagen viel dafür gegeben, es herauszufinden. Meine Eltern hatten einen Gärtnerdienst mit der Umpflanzung von dutzenden Sträuchern, Stauden und Büschen beauftragt, als sie ihr Haus in Schnelsen aufgaben, um nach Wellingsbüttel in das Haus zu ziehen, in dessen Garage sich ihre Tochter das Leben genommen hatte.
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