Nie mehr Nacht (German Edition)
eingelassenen kreuzförmigen Platte zu lesen, doch darunter Dienstgrad, Name, zwei Daten: Gefr. Kreher, Manfred *19.1.25 † 15.6.44.
»Mit neunzehn«, sagte ich nur.
Annik ging in die Hocke und fing an, Grashalme abzurupfen, die über die Platte wucherten. »Meine deutsche Oma ist vor vierzehn Jahren gestorben, in Braunschweig. Sie war achtzehn, als sie meine Mutter bekam. Manfred Kreher hat seine Tochter nie gesehen, aber wenigstens von ihr gewusst hat er. Am Tag bevor er an die Front geschickt wurde, schickte er eine Postkarte aus Paris, auf der er schrieb, wie glücklich er ist. ›Taumelnd vor Freude stehe ich vor der Église de la Madeleine, liebste Käte. Morgen geht es weiter nach Norden, nach Caen, ans Meer!‹ Er war ein großer stiller Junge, sagte meine Oma immer, und dass er Modelle baute und Kapitän werden wollte.«
»Und weiß man, wie er gefallen ist?«
»Ich hatte gehofft, du würdest das nicht sagen. Ich hasse den Ausdruck.« Sie stand auf, nahm meine Hand und zog mich weg. Wir gingen zurück. »Man weiß nichts Genaues. Nur, dass er bei Montmartin getötet wurde, ›südlich Montmartin-en-Graignes‹, aber wie, wodurch? Meine Mutter hat genau das herauszufinden versucht, als sie Mitte der Siebziger herkam. Sie war dreißig und wollte ihre Doktorarbeit schreiben. Tja, daraus wurde nichts. Mein unbekannter Großvater, unser Schicksal. Denn so kam ich zur Welt. In einem Zeitungsarchiv in Bayeux verliebte sie sich – in den Hausmeister.«
»Du bist Tochter eines Hausmeisters? Ist dir klar, was das bedeutet? Ich, der Übergangshausmeister des L’Angleterre , und du, die Hausmeistertochter, sind füreinander bestimmt! Wir sollten keine Geheimnisse mehr voreinander haben.«
»Das würde dir so passen!« Sie ließ mich los, lachte und fing an zu rennen, quer über die Grabplatten im Gras hielt sie auf eine Fünferreihe aus schwarzen Kreuzen zu.
Ich setzte ihr nach, erreichte sie aber erst, als sie aufgab und sich außer Atem hinter der Kreuzreihe auf den Rasen fallen ließ. Das Gras war kalt und feucht, als ich mich zu ihr legte.
»Ausgerechnet du musst kommen und einen Mercedes verkaufen«, sagte sie. »Ist das fair?«
Und ich sagte, es sei Vorsehung gewesen, bestimmt hätten die Toten es so gewollt. »Die Gefallenen! Ich hab mich schon oft gefragt, woher der Ausdruck kommt. Von ›Feld‹, oder? Die Soldaten, die ins Feld zogen und dort starben, das sind die Gefallenen.«
»Als hätte jemand sie gemäht, umgemäht«, sagte sie.
Und ich: »Ja. Der Schnitter. Der Sensenmann.«
»Und wir liegen hier, auf ihren Gräbern.«
Annik sah in den Himmel, der leer war, kühl und hellblau. Die Sonne stand schon sehr niedrig, sie flog auf der Stelle, schien warm und kalt zugleich, und sachte ging der Wind, als schöbe er einen Kinderwagen durch die Bäume.
Mein Kopf lag auf ihrem Bauch. Von unten sah ich Annik an, ihre Brust, ihr Kinn, ihre Nase, ihre Wimpern und Brauen.
Ich sagte, dass ich sie gern zeichnen würde.
»Ah ja? Nackt oder angezogen?«
»Deine Augen, nur die. Ganz nah, wie zwei Autoscheinwerfer, ehe man überfahren wird.«
Sie atmete tief ein und schloss die Augen. »Erzähl mir von ihr«, sagte sie. »Ist Lilith …«
»Nein.«
»… ist sie anders als deine Schwester?«
11
A ls ich Ende November das nächste Mal mit dem Rad nach Marigny fuhr, traf ich den Hund wieder. Als schiene er auf mich gewartet zu haben, folgte er mir müde über die Straßen voller Schlaglöcher. Noch immer flatterten aus den eingetrockneten Pfützen die Spatzen auf. Blieb ich stehen und drehte mich nach ihm um, dann blieb auch er stehen und behielt mich aus sicherer Entfernung im Auge. Und wenn ich weiterging, trottete auch er weiter, ein verlassener, neugieriger, großer hellbrauner alter Hund, der in eine vage Vorstellung von etwas Besserem versunken schien. Rechtzeitig bevor der Bus kam, wechselte er auf die andere Straßenseite, tat, als wäre er nicht meinetwegen gekommen, und setzte sich.
»Wollen wir abhauen zusammen?«, rief ich von der Haltestelle hinüber zu ihm. »Wenn du willst, komm mit. Na, Grimsel, was ist?« Aber er reagierte nicht. Auf der Skizze zu einem nicht ausgeführten Gemälde, die Carl Philipp Fohr vom römischen Antico Caffè Greco angefertigt hatte, sah man dutzende Maler, Dichter und Zeichner an Tischen sitzen und im Raum stehen, und zwischen ihnen, fast in der Bildmitte, seinen Hund Grimsel, nur ein paar Bleistiftlinien, ansonsten ganz weiß, als wäre er aus Licht. Als
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