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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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Schlüsse. Ich war nicht der Deutsche, von dem Séverine Laudec ihr am Telefon alles erzählt hatte. Wenn ich aber nicht er war, der Deutsche mit der toten Schwester, die ihr angeblich so ähnlich gesehen hatte, wer war ich, wo kam ich her?
    Mein Französisch war lachhaft, bemitleidenswert. Und mein Englisch kaum besser. Brite, Amerikaner oder Kanadier konnte ich nicht sein, vielleicht Australier, Neuseeländer, je weiter entfernt, desto besser.
    Unfug. Sie fuhr täglich, manchmal mehrfach täglich mit der Kitty oder einer anderen Fähre nach Poole.
    Und wenn ich stumm war? Ich war taubstumm. Hatte sie mich gehört, als ich mit dem Fahrer sprach? Dann musste ich mir etwas anderes einfallen lassen, dringend. Gab es eine Sprache, die sie nicht verstand? Du bist Russe. Spassibo. Danke! Ottschajanije. Verzweiflung. Spassibo, ottschajanije. Danke, Verzweiflung! Ich sprach kein Russisch. Selbst auf Dänisch konnte ich nur Lebwohl sagen, Farvel, so wie es Catinka zu mir gesagt hatte. Anders als Ira und Jesse hatte ich mich nie um Fremdsprachen geschert, mich kümmerte ja nicht mal die Fremde. Nichts war mir gleichgültiger, nichts fand ich trister, als irgendwo fremd zu sein.
    In der dunklen Scheibe sah ich Liliths Spiegelbild. Wir sahen uns ähnlich, war ich ihr deshalb aufgefallen, hatte sie mich daran erkannt? Sie drehte sich zu mir. Ich sah kurz hinüber zu ihr, ein Anblick zum Fürchten, ein furchtbares Glück.
    »Seit zwei Stunden folgen Sie mir.« Sie klang nicht mehr ganz so freundlich. Ich konnte es ihr nachfühlen. »Ich habe Sie gleich gesehen, schon am Hafen. Bei der Fähre saßen Sie auf einer Bank und haben mich beobachtet. Stimmt doch, oder?«
    Anstelle einer Antwort drehte ich den Kopf weg und spähte hinaus in die Dunkelheit.
    »Ich wusste, Sie würden kommen, zumindest hab ich’s mir gedacht. Trotzdem war ich überrascht. Sehen Sie mich doch bitte an.«
    Sie sah mir fest in die Augen, lange, länger als fünfzehn Jahre war es her, dass Ira mich so angesehen hatte. Jesse war noch nicht auf der Welt gewesen. Ein unverstellter Blick, einer, der ausgesandt wurde und ankommen wollte, ein Blick, der nur mich meinte.
    »Sprechen Sie mit mir. Bitte sagen Sie mir doch Ihren Namen.«
    Sie bog sich zurück und hielt mir die freie Hand hin. Es war eine schmale, helle Hand, mit langen Fingern. Ich kannte sie so gut wie diese Augen, grüne, tiefe Augen, die versuchten, etwas in meinen Augen zu lesen.
    »Ich bin Lilia, Lilia Muller. Lilith.«
    Ich nahm die Hand. Sie war warm. Ihre Wärme durchströmte mich, sodass ich doppelt fühlte, wie kalt ich ihr erscheinen musste. Kein Wort hatte ich gesagt, und keins konnte ich mir zu sagen vorstellen. Erst wenn ich allein war, irgendwo in Octeville, würde es aus mir herausbrechen, und bloß das wollte ich noch, allein sein, damit es herausbrach.
    Der Bus war fast leer. Nur der junge Krimileser, weiter vorn ein paar Damen mit ihren Enkeln, die in aufgeklappte Spielekonsolen staunten, sowie Lilith und ich wurden noch von dem Mann hinterm Steuer durch den Abend gefahren.
    Wortlos stand ich auf, drückte den Halteknopf und sah, über dem Drehgelenk leuchtete der rote Schriftzug auf. Ich blieb stehen, und da gab sie auf, schob die Knie zur Seite und ließ mich durch in den Gang.
    »Merci«, sagte ich. Sie schien nicht verärgert, weil ich sie so auflaufen ließ, wirkte bloß ratlos, und das immerhin verband uns in diesem Moment.
    Ich ging zur Tür, ich sehnte das Stoppen des Busses, die aufgehenden Türen herbei. Noch einmal drehte ich mich zu ihr und fand sogar den Mut zu einem Lächeln. Endlich hielt der Bus. Die Tür ging auf.
    »Gute Nacht«, sagte sie, zwei Wörter anstatt eines traurigen Achselzuckens.
    Die folgenden Stunden verbrachte ich in einem besinnungslosen, manchmal schmerzhaft wachen Taumel. Auf der Suche nach der Haltestelle, wo der Bus zurückfuhr, irrte ich eine Einkaufsstraße entlang, deren Läden schon alle stockfinster und verrammelt waren. Es nieselte. In einem Vorgarten saß unter einem Forsythienstrauch eine kleine weiße Katze. Sie sah mich so verloren an, als erkannte sie ihresgleichen.
    Ich beschloss, etwas zu essen, ehe ich ein Taxi zum Bahnhof nahm. Ich schlürfte eine Miso-Suppe, aß Reis, etwas Fisch, aber wo? Keine Erinnerungen an ein Gesicht, einen Tisch, das Lokal. Versuche, mich zu sortieren, verwirrten mich nur noch mehr. Ich wurde aufgezehrt vom Verlangen nach einer Zigarette, merkte aber in meiner Zerfahrenheit immer deutlicher, wonach ich mich

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