Nie Wirst Du Entkommen
her. Ich will dir was zeigen.«
Sie führte ihn aus der Halle und ins Labor. Hier war der Geruch nicht ganz so schlimm. Aidan atmete erleichtert ein und ignorierte ihr Grinsen. »Und? Was gibt’s?«
Sie gab ein paar Kapseln aus zwei verschiedenen Flaschen auf ein weißes Blatt Papier. Eine der Flaschen erkannte Aidan aus Adams’ Wohnung wieder. Die andere Flasche trug das Etikett einer Krankenhausapotheke. »Links Xanax aus dem Krankenhaus, rechts die Kapseln, die ihr von Adams’ Nachttisch mitgenommen habt.«
Aidan betrachtete sie prüfend. »Die sehen absolut gleich aus.«
»Nicht wahr? Jemand hat die Kapseln geleert und sie mit PCP gefüllt.«
Aidan begegnete ihrem Blick. »Dieser Jemand hat sich verdammt viel Mühe gemacht.«
»Dieser Jemand wollte, dass sie durchdreht und manipulierbar wird.«
Aidan dachte an die Fotos und die Schlinge in dem Geschenkkarton. Die geladene Pistole, die sie in einer weiteren Geschenkschachtel im Schrank gefunden hatten. An die Trittleiter auf dem Balkon, die eine Woche zuvor noch nicht dort gewesen war. An die Lilien. »Mist.«
»Treffend ausgedrückt«, sagte Julia. »Komm noch mal zurück in den Untersuchungsraum. Ich will dir etwas anderes zeigen.« Er folgte ihr und sah zu, wie sie Adams’ Arm anhob. Tiefe, vertikale Narben verunstalteten ihr Handgelenk.
»Sie hat schon einmal versucht, sich umzubringen«, murmelte er.
»Mindestens einmal.«
»Wir haben eine geladene Waffe und eine fertige Schlinge in ihrer Wohnung gefunden. An beiden hingen goldene Anhänger mit der Aufschrift ›Komm zu mir‹.«
Julia seufzte. »Da hat jemand wirklich alles darangesetzt, dass sie sich das Leben nimmt.«
»So sieht es wohl aus. Aber du hast gesagt, ich soll dich an die Lilien erinnern.«
»Ach ja. Ich habe Pollen in ihrer Nase gefunden.«
»Eine Blume lag unter ihrem Kopfkissen.«
»Okay, das ergibt Sinn. Denn ich habe an den Händen keine Pollen gefunden.«
»Vielleicht hat sie sie gewaschen.«
»Möglich ist es, aber bei den Blumenmassen, die in der Wohnung verstreut gewesen sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie nicht wenigstens Reste unter den Fingernägeln gehabt hätte, wenn sie sie selbst verteilt hätte. Vor allen Dingen bei den Nägeln.«
Aidan betrachtete die langen, rot lackierten Nägel. »Sie hat die Lilien also nicht angefasst.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Das heißt, jemand anderes hat sie angeschleppt.« Sein Handy klingelte, und er zog es aus der Tasche.
Es war Murphy, und er klang … wütend. »Aidan, wo bist du?«
»Im Leichenschauhaus. Was ist los?«
»Latent hat mir die Auswertung der Fingerabdrücke gebracht, die die Spurensicherung in Adams’ Wohnung genommen hat.«
Aidan wartete, aber Murphy schwieg. »Und? Was hat Latent gefunden?«
»Komm einfach hoch«, fauchte Murphy. »Sofort, verdammt noch mal.«
Sonntag, 12. März, 12.30 Uhr
Tess betrachtete ihr Bild im Spiegel neben der Eingangstür. Ein guter Concealer war wirklich Gold wert; die dunklen Ringe unter ihren Augen waren so gut wie unsichtbar. Es war der zweite Sonntag im Monat und Zeit für den Brunch mit Freunden im Blue Lemon Bistro. Nachdem sie den größten Teil der Nacht Cynthia Adams’ Akte durchgesehen und nur kurz und unruhig geschlafen hatte, war sie versucht, ihre Freunde anzurufen und sich zu entschuldigen. Aber sie widerstand. Der Verlust einer Patientin durfte ihr Leben nicht durcheinanderbringen. Sie wusste das inzwischen. Es war Jons Standardspruch, und er war Chirurg und hatte schon Patienten auf dem OP -Tisch verloren. Zum Glück nicht allzu oft.
Um dem Schicksal die Stirn zu bieten, hatte sie sich heute Morgen extra hübsch gemacht. Sie hatte sich besondere Mühe mit ihrem Haar gegeben, ihr Make-up sorgfältiger aufgetragen und sogar das Preisschild von der roten Lederjacke entfernt, die sie sich für eine besondere Gelegenheit hatte aufheben wollen. Amy würde sich an ihrem Kaffee verschlucken, wenn sie sie sah, dachte Tess. Sie würde sie anflehen, die Jacke ausleihen zu dürfen, und wie immer würde Tess nachgeben. Und wie eine kleine, lästige, wenn auch liebenswerte Schwester, die Tess nie gehabt hatte, würde Amy die Jacke behalten, bis Tess irgendwann in einer Razzia in ihrem Schrank einfallen und all ihre Sachen zurückholen würde. So war es schon immer gewesen. Seit Amy vor zwanzig Jahren bei den Ciccotellis eingezogen war.
Tess schloss die Augen. Allein der Gedanke an ihre Familie tat weh, besonders an den Sonntagen. Sie würden sich nun alle
Weitere Kostenlose Bücher