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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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Arm sachte, nah an dem Felsen entlang nach oben und verankerte die Finger in der Kante. So ging das.
    Nun konnte er mit dem einen Fuß auf den Streichholzschachtelstein steigen; an der Kante, die auf Brusthöhe war, stemmte er sich hoch, positionierte die Spitze des linken Schuhs in einer Rille, ebenso jene des rechten, sodass er in einer Grätsche stand, einer unsicheren Stellung, aber so vorsichtig wie bei einer Bombenentschärfung schwebte bereits die freie Hand nach oben– und gerade als sein Körper zu wanken begann, drohte, von der Wand wegzukippen, fassten die Finger nach einem perfekten Griff.
    Fürs Erste stand er sicher, an drei Punkten fixiert. Auf Höhe des Bauches– ideal positioniert– befand sich einer der im Felsen verankerten Haken, an denen er sich mit Karabiner, Bandschlinge und Seil– wie in der Kletterhalle an den Echsen– hätte sichern sollen, aber wegen Louises Untreue nicht konnte.
    Er hatte bereits eine beachtliche Höhe erreicht; ein Absturz bliebe nicht folgenlos. Zweifelsfrei wurde die Route schwieriger: eine senkrechte Kante, einen halben Meter tief, hob sich von der Wand ab. Man musste sich darin verkeilen, den einen Fuß gegen die Fläche der Kante und den anderen gegen die Wand drücken, die einen rechten Winkel bildeten. Aber wo war der nächste Griff?
    André wartete einen Moment. Er wollte sich nicht in eine ungünstige Lage bringen, in der er nicht mehr weiterwusste; das war verheerend, da kräfteraubend. Stattdessen suchte er in der Wand nach möglichen Griffen, hielt sich noch immer mit dem linken Arm fest, der gestreckt war, was nicht viel Kraft kostete. Fehlten vielleicht Griffe? Es konnte doch nicht sein, dass es keine Griffe mehr gab.
    André fühlte sich betrogen. Und er erinnerte sich, dass es ihm in der Kletterhalle auch schon so ergangen war, vor allem im Außenbereich, wo Louise und er seit den ersten warmen Tagen im Frühling kletterten. Neben einer glatten Wand, an die Griffe und Tritte geschraubt waren, befanden sich auch mehrere hinkelsteinähnliche Wände, und diese Hinkelsteine waren ein viel besseres Imitat eines echten Felsens: sie waren nicht glatt, sondern mit Kanten und Spalten, mit Ritzen und Rillen, und man musste diese nutzen, denn mit den angeschraubten Griffen und Tritten allein kam man nicht hoch. An diesen Hinkelsteinen hatte er oft das Gefühl gehabt, dass Griffe fehlten, dabei war er bloß nicht schlau und mutig genug gewesen, sich auf kleinste Kanten und Rillen zu verlassen.
    Hier also eine ähnliche Situation. Nicht die Griffe fehlten– er war ein verwöhnter Hallenkletterer.
    Jetzt aber befand er sich an einem echten Felsen, ohne Sicherungsseil; jetzt ging es um das nackte Überleben. Er musste weiter, seine Kräfte ließen nach.
    Er bäumte sich auf, wagte den Aufstieg ins Ungewisse, verkeilte die Beine zwischen Kante und Wand, hielt sich noch an dem guten Griff fest, nunmehr mit stark angewinkeltem Arm, was nicht länger als einige Sekunden durchzuhalten war, suchte mit der anderen Hand nach einem neuen Griff, fand mehrere lose Steinchen, er konnte sie nicht sehen, suchte weiter, zunehmend verzweifelt, ließ die Finger über den Felsen gleiten, ertastete eine Spalte, in die seine Fingerkuppen hineinpassten, zog sie in der schmaler werdenden Spalte schräg nach unten und verankerte sie, indem er sie einklemmte.
    Nun hielt er fest. Doch nicht so gut, dass er sich ganz an die Finger hängen konnte; ein großer Teil seines Körpergewichts musste auf den Beinen bleiben, und dafür war es zwingend, dass er mit der Hüfte nah an der Wand blieb, sich mit dem Arm an die Wand heranzog, was wiederum Kraft brauchte.
    Vorsichtig schob er die freie Hand nach oben in Richtung eines Griffes, den er entdeckt hatte. Da fehlten knapp zwanzig Zentimeter! Himmel! Er musste ruhig bleiben. Auch diese Situation kannte er aus der Kletterhalle: man kriegte einen Griff nicht zu fassen. Entweder konnte man hochspringen, was manchmal die einzige Lösung, jedoch mit einem erheblichen Risiko verbunden war, vor allem, wenn man die Route nicht kannte; hier, ungesichert und allein, verbot sich das grundsätzlich. Oder man drückte sich langsam hoch, obwohl man glaubte, den Halt zu verlieren; oft verlor man ihn nicht, wenn man sich nur nah genug an der Wand hielt.
    Man brauchte Vertrauen, musste mit der Wand verschmelzen. Er benutzte oft den Vergleich mit einer Eidechse, die am Wegesrand eine Steinmauer hochkletterte: ihr Körper flach an der Mauer. So musste man

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