Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
Vom Netzwerk:
klettern!
    Er setzte um, was er wusste. Hielt sich mit den Fingern in der Spalte fest, drückte mit den Beinen nach oben, tippelte mit den Fingern der anderen Hand an der Wand entlang hoch, nutzte jede kleinste Unebenheit aus, um darin Halt zu finden, vergaß nicht, seinen Bauch, sein Becken mithilfe der Körperspannung nah an den Felsen zu bringen.
    Und dann ertasteten die Finger den rettenden Griff, eine Kante, in die er alle vier Finger versenken konnte wie in der Regenrinne eines Hausdaches– was für ein Luxus!, eine Wohltat!
    Auch die Füße fanden jetzt, da er ein Stück weiter hinaufgelangt war, guten Halt. Er stand senkrecht auf den Beinen, benötigte im Arm, der in der Regenrinne verankert war, fast keine Kraft, konnte die beiden Arme sogar ablösen, sich einmal mit dem linken, dann mit dem rechten festhalten.
    André pausierte. Schüttelte den rechten Arm aus, wenn der linke arbeitete, und umgekehrt. Er war überrascht von dem Schwierigkeitsgrad dieser Route. Hätte er das vorher gewusst, er wäre ohne Seil nicht hinaufgestiegen. Aber nun steckte er im oberen Drittel der Wand, und es gab nur eine Möglichkeit: er musste weiter!
    Eine Umkehr war ausgeschlossen, dafür reichten seine Kräfte nicht. Er musste nur noch das überhängende Stück schaffen, vielleicht zwei Meter, und er wäre oben, vorerst gerettet. Die Vorstellung, die ihn nun beschlich, nämlich dass er abstürzen könnte, machte ihn wirr im Kopf. Er stand im Felsen, fast ohne Kraft zu verbrauchen, und hatte Angst, mit der Fußspitze abrutschen, beim Handwechsel aus Unachtsamkeit die Dachrinne aus den Fingern verlieren zu können. Er musste nur für eine Sekunde das Bewusstsein verlieren, und mit seinem Leben wäre es vorbei.
    André beschloss weiterzuklettern. Er durfte nicht ins Zaudern geraten; Zaudern, Unentschiedenheit– das war der Tod. Er hatte nur eine Chance, wenn er die Dinge mit einer Selbstverständlichkeit tat, als gäbe es keine Zweifel.
    Mit einer routinierten Bewegung griff er nach hinten an sein Gesäß, aber da hing kein Magnesiumbeutel. Diesen Beutel, mit dem er in der Halle immer kletterte, hatte er auf die Wanderung nicht mitgenommen. Und er schwitzte in seiner Jacke, schwitzte, weil die Sonne ihn anstrahlte, schwitzte vor Angst, und auch die Hände, die Finger waren feucht. Sie zitterten und versprachen nur schlechten Halt.
    André sammelte sich. Wo ein Wille, da war ein Weg. Er hielt sich mit beiden Händen an der Dachrinne fest, stieg mit den Füßen so hoch hinauf wie möglich, fasste mit der linken Hand nach dem Griff, der sich unterhalb des überhängenden Felsstückes befand– eine Art Fach, das als Standort für ein kleines Vogelnest geeignet war–, ließ die Dachrinne los, trat mit den Füßen nach, wieder so weit hoch wie möglich, und warf die freie Hand nach oben. Da musste etwas sein, ein guter Griff, doch er sah nur wieder ein kleines Stück Stein, das wie eine Streichholzschachtel herauslugte und auf dessen obere Fläche er seine Fingerkuppen legen konnte– mehr nicht.
    In der Kletterhalle war das eine Sieben. Im Toprope kam er die eine oder andere hoch, wenn auch mit Pausen, im Vorstieg war er chancenlos. Einmal hatte er im Vorstieg eine Sieben versucht, eine Route mit neuen, porösen Griffen, doch dieser konstante Überhang in Kombination mit kleinen, schlechten Haltemöglichkeiten, teilweise Klötzchen wie diese Streichholzschachteln, hatte seine Kräfte überstiegen. Technisch war die Route mit ein wenig Übung durchaus zu machen gewesen, er hatte sie, mit Pausen alle zwei Meter, bis in das obere Drittel geschafft, doch dort, im Anschluss an einen stark überhängenden Teil, hielt er sich mit Fingern, die er nicht mehr spürte, an einem Klötzchen fest, während die andere Hand verzweifelt versuchte, das Seil zur Echse und dem Karabiner hochzuziehen, der ein Stück über seinem Kopf hing, und er spürte, dass es nicht reichte, alles zitterte, die Finger, die Hände, die Beine, und er hatte noch immer Angst, im Vorstieg zu fallen, da konnte man durchaus vier-fünf Meter hinunterstürzen. Er beschloss, die Griffe der anderen Routen zu nehmen, um das Seil in den Karabiner einklicken zu können, damit er nicht so weit hinunterfiele, doch auch die Griffe der anderen Routen waren schlecht, entweder klitzeklein oder groß und rund, sodass er bloß seine weit geöffnete Hand darauflegen und versuchen konnte, so ein wenig Halt zu finden. Irgendwie hatte er es damals geschafft, vielleicht hatte er sich sogar

Weitere Kostenlose Bücher