Niedergang
am Karabiner selbst festgehalten, was man nicht tun sollte, weil man sich im Falle eines Sturzes die Finger verletzen konnte.
Diese Szene ging André in Sekundenschnelle durch den Kopf, als er sich an der steinernen Streichholzschachtel festhielt. Er wusste: Diesen Griff hielt er nur wenige Sekunden, dann war die Kraft weg. Und er hatte nur eine Chance.
Er zog sich hoch, drückte das Becken an die Wand, musste, um mit der rechten Hand an einen guten Griff rechts außen zu gelangen, seinen Körper in diese Richtung schieben, weshalb die Finger der linken Hand an der Streichholzschachtel stärker belastet wurden, eine Unmöglichkeit. Ein wenig musste er schwingen, war in der Bewegung für einen oder zwei Zentimeter ohne festen Halt an den Händen, berührte mit den Fingerkuppen der rechten den lebensrettenden Griff, rutschte ab– und schrie auf.
Ein anderer wäre abgestürzt, doch er hatte geistesgegenwärtig das linke Klötzchen in die Zange genommen, das linke Bein nach links außen gestellt, mit dem er nun gegen den Berg drückte, damit er sich rechts nicht von der Wand abzulösen begann, blieb mithilfe der Körperspannung dicht am Felsen, konnte beinahe mit den Zähnen nach dem Stein beißen, schlängelte den rechten Arm nach oben, drückte sich links vom Klötzchen ab, hielt es aber weiterhin fest, jetzt allerdings von der Seite, und fasste rechts nach dem guten Griff.
Er schrie, wütend, erlöst. Stellte die linke Fußspitze auf das Klötzchen, versenkte die Finger der linken in einer scharfen Spalte und wuchtete sich hoch.
23 – Einsamer Sieger
André saß auf dem Gipfel, die Beine angezogen, und schaute vor sich zu Boden. Sein Atem ging noch heftig, auch das Herz wollte sich nicht wieder beruhigen. Die Schmerzen in Knie und Ellbogen, die er beim Klettern nicht wahrgenommen hatte, trieben den Puls zusätzlich hoch. Alle vier Finger der linken Hand bluteten, eine gleichmäßige, schnittartige Wunde ging über die Innenseite der kleinen Gelenke, gerissen von der scharfen Kante. André steckte die Hand in den Schnee, wie man glühendes Eisen in Wasser tauchte.
Der Gipfel besaß die Form einer Beere, von einem Plateau konnte man nicht sprechen, zu klein, vor allem zu abgerundet war die Fläche. Nichts konnte man hinstellen, ohne Angst haben zu müssen, dass es hinunterpurzelte. André besaß nichts, das er hätte hinstellen können.
Zuoberst auf dem Buckel, konnte er auf alles andere hinuntersehen. Nun war er am höchsten Punkt. Er hatte den Olymp bestiegen und sich auf ihn gesetzt, wie sich ein König auf seinen Thron setzte; wie ein Gott saß er da und schaute auf die Welt hinunter. Er sah weder andere Götter noch Menschen, nur Dunkelheit, während er sich im Halbdunkel befand, und über ihm wölbte sich der Himmel in sanfter Helle, von der Sonne, die im Horizont verschwunden war, noch beschienen.
André musste schleunigst zurück, seinen Thron verlassen, in wenigen Minuten sähe er nichts mehr, dann wäre es zu spät. Ihm fehlte jede Kraft. Er benötigte eine längere Pause; eine Stunde, wenn nicht mehrere. Und selbst wenn er wieder bei vollen Kräften war– wie sollte er diese Route noch einmal meistern? Hinunter war schwieriger als herauf.
Wie eine Katze fühlte er sich, die zu hoch auf einen Baum geklettert war und um Hilfe schrie. In solchen Fällen kam die eilig herbestellte Feuerwehr und holte das arme Tier herunter. Für ihn gab es keine Feuerwehr.
Es gab die Rettungsflugwacht, die, wie er vermutete, nicht in der Nacht flog. Ohne Mobiltelefon konnte er sie so oder so nicht verständigen. Jetzt bereute er, dass er sein Handy nicht mitgenommen hatte; vielleicht hätte das Gerät hier oben Empfang gehabt.
Andererseits: Wollte er sich auf diese Weise helfen lassen? Von einem Helikopter gerettet und hinunter zu Louise gebracht werden, die ihn wie einen dummen Jungen ansähe?
Die Konsequenzen seines Handelns musste er selber tragen. Zum Glück hatte er kein technisches Gerät mitgenommen; er konnte nicht in Versuchung kommen. Er wollte den Weg hinunter selber schaffen, und wenn es nicht gelang, wollte er sterben. So bliebe er wenigstens mit sich im Reinen.
Inzwischen war es dunkler geworden. Noch sah André die Umrisse seines Hügels, erkannte Unebenheiten im Schnee, hätte Griffe gesehen, die sich direkt vor seinen Augen befanden, andere, weiter entfernte jedoch nicht mehr. Nach und nach wurde die Frage, ob er den Abstieg noch an diesem Abend wagen sollte, von der Zeit entschieden.
Er saß in
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