Niederschlag - ein Wyatt-Roman
wäre tödlich gewesen. Er fragte sich, ob sein .38er mit nur noch einem Schuss in der Trommel jetzt das Richtige sei. Aber der Revolver war nicht seine einzige Waffe. Immerhin verfügte er noch über Hände und einen Kopf.
Seine Hände und sein Kopf. Beides war nicht so leistungsfähig, wie es hätte sein können. Wenn sein Kopf zu Blackouts neigte, taugten auch seine Hände wenig.
Er bewegte sich. Lange genug hatte er herumgestanden. Der Tagesanbruch rückte heran und Wyatt musste sich den Bäumen, dem Gras und den verschiedenen Erdtönen anpassen. Er näherte sich dem Bach, scheuchte eine Beutelratte auf, brach ein- oder zweimal versehentlich einen Zweig ab oder schabte gegen Baumrinde, doch jedes Mal wartete er einige Minuten, bevor er sich weiterbewegte, hoffte, dass Steer das Geräusch als zufällig abtue.
Am Rande des Baches, im Schlamm, stieà er auf Spuren von Wallabys und Kaninchenkängurus. Der Morast hatte die Beschaffenheit von Schmieröl. Wyatt tunkte seine Hände darin ein und beschmierte groÃflächig Jeans und Sweatshirt, verteilte Schlamm auf Gesicht, Kopf und Handrücken. Der Dreck klebte an ihm wie eine zweite Haut, er würde nur langsam trocknen und ebenso langsam wieder abbröckeln. Zum Schluss verteilte Wyatt Blätter und Gras auf seinem Körper, bis er einen Tarnanzug aus Schlamm und Vegetation trug â im Stil eines schottischen Wilderers oder Wildhüters und nicht im Stil eines Menschenjägers.
Als der Tag voll angebrochen war, setzte Wyatt zur Jagd auf Steer an. Der Bach verlief durch eine mehrere Kilometer lange Senke, hier und da verdeckt von einem Dickicht aus dichten Bäumen, Adler- und Riesenfarnen. Auf weiten Strecken jedoch floss er durch einen Graben im offenen Gelände, zu beiden Seiten flankiert von Grashügeln, Weideland für Milchvieh. Wyatts Ausgangspunkt war der Baumgürtel am FuÃe des Abhangs vor seinem Haus, genauer gesagt, das im Osten gelegene Ende. Von dort bewegte er sich schnell und geräuschlos hinüber zum westlichen Ende des Baumgürtels. Von Steer war weit und breit nichts zu sehen. Wyatt blieb stehen, spähte durch den feinen, hartnäckig über den Boden wabernden Nebel, fing das Gelände mit einem raschen Blick ein, lieà ihn nirgendwo verweilen, da er befürchtete, eine Bewegung oder eine Gestalt zu übersehen. Der Bach plätscherte über Steine, Singvögel begrüÃten den Morgen: eine graue Drossel, Honigfresser mit ihren gebogenen Schnäbeln, seidige Fliegenschnäpper.
Aus Wyatts Sicht hatte Steer drei Optionen: dem Bach über das offene Gelände bis zur nächsten Baumgruppe folgen; rechts oder links des Grabens einen grasbewachsenen Hügel erklimmen, sich wieder im Schutz der Bäume befinden und freies Schussfeld haben; sich irgendwo verbergen, Wyatt vorbeiziehen lassen und so vom Gejagten zum Jäger werden.
Als Erstes nahm sich Wyatt der letzten Option an. Der einzige Schutz auÃerhalb der Bäume waren breitflächige Horste aus Flatterbinsen. Er gab seine Deckung auf und bahnte sich seinen Weg dorthin. Mit einem Blick erfasste er, dass Steer sich hier nicht aufgehalten hatte. Die Binsen standen unberührt und es gab keine Spuren im Schlamm.
Er kauerte sich hin, starrte hinüber zu den Grashügeln auf beiden Seiten des Baches. Es gab mannigfaltige Möglichkeiten, das Spiel zu gestalten. Abwarten und Steer agieren, ihn die Fehler machen lassen. Bliebe er, Wyatt, jedoch in Bewegung, wäre er auch weiterhin im Vorteil und könnte Steer womöglich aus dem Konzept bringen. Er hatte seine Deckung aufgegeben, um zu den Flatterbinsen zu gelangen, etwas, was er besser nicht hätte tun sollen. Aber Steer hatte nicht geschossen. Könnte das bedeuten, dass Steer ihn nicht gesehen hatte? Womöglich befand er sich auf einem erhöhten Platz, hatte so mehrere Punkte gleichzeitig im Visier, was aber auch hieÃe, dass seine Aufmerksamkeit geteilt war. Wenn möglich, wollte Wyatt Steer aus der Deckung locken. Aber weshalb sollte sich Steer darauf einlassen? Es war wesentlich klüger, im Hinterhalt zu bleiben.
Wyatt vermutete, dass Steer entweder auf der Flucht war oder ihm abseits des Baches eine Falle stellen wollte. Er sah hinauf zu den Hügeln. Irgendwo dort oben hielt Steer sich auf.
Er begab sich in den Schutz eines Pfefferminz-Eukalyptus, um sich mit dem Boden zu beschäftigen, ihm Hinweise zu entlocken. Dazu
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