Niedertracht. Alpenkrimi
leiser, aus der Ferne, durch die Steinplatte hindurch. Der Putzi wusste nicht, was schlimmer war: der Schmerz oder die Überraschung, dass seine Mutter hier oben war. Sie wusste von dem Versteck! Der Putzi musste sich jetzt entscheiden. Zum Käfig zurückklettern und dem Ganzen ein Ende machen? Oder das Kind nehmen und es noch einmal probieren, an dieser verdammten Putzimutter vorbei? Er wählte Zweiteres, doch erst kroch er zurück. Wo war das Kind jetzt? In der letzten oder in der vorletzten Nische? Er tastete sich an der Wand entlang. Hier musste es sein. Er bekam etwas Längliches, etwas wie einen Arm zu fassen. Es war viel zu groß für einen Kinderarm. Es war auch zu hart dafür. Er lockerte den Griff und verstärkte ihn wieder. Er tastete den Gegenstand ab. Das, was er in der Hand hatte, war eindeutig ein menschlicher Unterarmknochen.
52
Tanzjodler nach Pina Bausch
»Haben Sie mit der Wärmebildkamera irgendjemanden entdecken können?«, rief Jennerwein ins Mikrophon des Headsets, kurz nachdem er erneut in den Hubschrauber gesprungen war. Der Hauptmann schüttelte den Kopf.
»Fliegen Sie wieder hoch zur Bergspitze! Es muss einen Stollen geben, der dort oben herausführt. Wir müssen uns den Bereich rund um die Aussichtsplattform genau ansehen.«
Hauptmann Stecher verzog keine Miene, er gab dem Hubschrauberpiloten entsprechnende Anweisungen. Der VX 2–29 stieg schnell, dann senkte er sich über die Hochebene. Jennerwein konnte deutlich den Busparkplatz erkennen. Einige Leute schienen panisch zu fliehen, als sie den Kampfhubschrauber kommen sahen. Busse starteten und fuhren los.
»Fliegen Sie an den Rand. Dorthin!«
Er deutete auf eine Kuhle neben dem Halbkreis des Aussichtsplateaus, die von einigen Tannen umgeben war. Die Kuhle lag zwanzig Meter vom Abgrund entfernt, sie war uneben und unübersichtlich. Doch dann konnte Jennerwein rennende und fuchtelnde Gestalten in der steinigen Bodensenke ausmachen. Erst waren es bewegliche Punkte, dann konnte man drei unterschiedlich große Menschen erkennen.
»Noch näher ran!«
In unregelmäßigen, kurzen Abständen setzte das grobkörnige Schwarzweißbild auf dem Monitor aus, doch es gab keinen Zweifel: Ein Mann zog ein Kind hinter sich her. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und versuchte es hochzuheben. Das Kind wollte nicht hochgehoben werden. Die dritte Gestalt fuchtelte mit einer Schaufel herum und bewegte sich auf die beiden zu. Das Kind riss sich los. Die Gestalt mit der Schaufel drosch auf den Mann ein. Es gab ein Gerangel, der Mann versuchte gleichzeitig, die Schläge abzuwehren und das Kind wieder in seine Gewalt zu bekommen. Das alles geschah innerhalb von wenigen Sekunden.
»Das ist er«, sagte Jennerwein ruhig. »Gehen Sie tiefer.«
Jennerweins Absicht war es, den Mann schnellstmöglich von dem Kind zu trennen. Doch wer war die Gestalt mit der Schaufel? Das musste einer von Harrigls Gefolgsleuten sein, der vielleicht noch mehrere Lynchbuben im Schlepptau hatte.
»Machen Sie mich und Kommissarin Schwattke fertig zum Ausstieg.«
»Wir haben Scharfschützen hier, wir könnten –«
»Nein. Kein Einsatz von Schusswaffen. Machen Sie, was ich sage! Und lassen Sie uns beide raus!«
»Dafür haben wir zwei ausgebildete –«
»Schnauze!«, unterbrach ihn Jennerwein.
Stecher zog nur die Augenbrauen hoch und wies den Piloten an, tiefer zu gehen. Nicole und Jennerwein überprüften, ob sie auch sicher eingeklinkt waren.
»Nicole, Sie gehen zuerst runter und isolieren das Kind. Ich kümmere mich um ihn. Ich –«
Jennerwein verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Die Schiebetür war aufgerissen worden, und sie schwebten fünfzehn Meter über dem Abgrund. Der Hubschrauber legte sich quer, er hatte sich gefährlich nahe zwischen die herumstehenden Tannen gesenkt. Er war viel zu groß für diesen Einsatz. Aber jetzt konnten sie nicht mehr zurück.
»Beeilen Sie sich!«, schrie Stecher. »Lange können wir den Vogel so nicht in der Luft halten! Es ist viel zu windig, die Böen drücken uns an den Fels.«
Nicole gab als Erste das Kommando zum Herunterlassen, das Letzte, was Jennerwein von ihr sah, war ihr Pferdeschwanz, der unter dem Schutzhelm herausflatterte. Der Kommissar richtete seinen Blick nun auf den Mann, der sich genau unter ihm bewegte. Der Täter war vermutlich nicht bewaffnet, sonst hätte er längst geschossen. Er blickte nicht einmal hoch, das einzige Interesse des Mannes schien dem Kind zu gelten. Der Abstand zwischen ihm und dem
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