Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Atomkerns eine Art zweite Quantisierung durchgeführt werden. Möglicherweise brauchte man an dieser Stelle wiederum eine ganz neue Sprache, um die natürlichen Vorgänge im Innersten der Dinge zu beschreiben.
Als sich 1931 alle Kernphysiker in Rom zu einem ersten größeren Kongress zu diesem Thema trafen, gehörte auch Bohr zu den Rednern. Seine Ausführungen verrieten die vorsichtige Erwartung weiterer Überraschungen in seiner Wissenschaft. Bohr konzentrierte sich – wie viele seiner Kollegen – auf die Elektronen des Beta-Zerfalls, die auf irgendeine Weise mit dem Atomkern verbunden sein mussten:
Bei dem Problem des elektronischen Aufbaus der Atomkerne haben wir eine völlig neuartige Äußerung der Atomstabilität vor uns. Unser einziger zuverlässiger Führer bleibt die Erhaltung der Ladung und der Atomizität der elektrischen Ladung. Angesichts dieser Situation müssen wir den Einfang oder die Aussendung eines Elektrons durch den Kern entweder als Vernichtung oder als Erzeugung eines Elektrons als mechanische Einheit betrachten. Deshalb dürfen wird nicht überrascht sein, wenn wir feststellen, dass die Prozesse nicht solchen Gesetzen wie den Erhaltungssätzen gehorchen, die auf der Vorstellung materieller Teilchen beruhen.
Im historischen Rückblick kann die Kernphysik natürlich erst in dem Jahr als relevant erachtet und auf den richtigen Weg gebracht werden, in dem mit dem Neutron die Existenz eines weiteren – des dritten – elementaren Gebildes nachgewiesen und bekannt wird. Erst ab dem kernphysikalischen »Wunderjahr« 1932 waren die Grundbestandteile bekannt – neben den schon länger bekannten
Elektronen und Protonen kamen noch die Neutronen hinzu –, die zu einem Atom gehören und seinen Kern und seine Schale bilden.
Nun konnten sich die Theoretiker an ganz neuen Modellen des Atomkerns versuchen; und da der dritte Baustein so schwer (massiv) wie ein Proton war, konnte man annehmen, dass sein Ort nicht in der Schale zu suchen war. Im Jahr 1934 gelang es schließlich dem Italiener Enrico Fermi (1901–1954), den Beta-Zerfall in Grundzügen auf eine Weise verständlich machen, die seine Kollegen akzeptieren konnten. Fermi stellte sich vor, dass Neutronen ihren Ort im Kern einnehmen und dort einzeln in der Lage sind, sich in Protonen und Elektronen zu verwandeln. Die Umwandung basiert auf der Wirkung einer schwachen Kraft, deren Reichweite auf den Radius des Kerns beschränkt bleibt. Die Elektronen verlassen nach ihrem Erscheinen sogleich das Zentrum und dringen als energiereiche Beta-Strahlen nach außen, die man erst messen und dann nutzen kann. Die Protonen verbleiben währenddessen im Kern, dem nun allerdings eine andere Ordnungszahl zukommt und der damit zu einem anderen Element umgewandelt worden ist. Wenn zum Beispiel Gold mit seinen 79 Protonen im Kern dort einen Beta-Zerfall erleidet und anschließend aus Atomen mit 80 Protonen im Kern besteht, dann ist aus dem wertvollen Element plötzlich Quecksilber geworden.
Zwar bleibt beim Beta-Zerfall auch in den theoretischen Vorstellungen von Fermi die Ladung erhalten – sie ist vorher und nachher gleich null –, aber die Messungen der Physiker hatten seit Rutherfords Tagen und nachdrücklich durch Experimente von Lise Meitner gezeigt, dass es ein Problem mit der Erhaltung der Energie gibt, wenn man den konventionellen Blick auf die Dinge beibehält. Irgendetwas fehlte in der Bilanz des Zerfalls oder ging verloren.
Zunächst hatte Bohr, wie geschildert, eine Aufweichung des Prinzips in Erwägung gezogen, ohne damit weiterzukommen. Deshalb verabschiedete er sich von dieser verrückten Idee. Das Rätsel blieb auch, nachdem Pauli 1930 – noch vor der Präsentation des echten Neutrons – in einem theatralischen Vorschlag dafür plädiert hatte, sich noch ein drittes – neutrales – Teilchen vorzustellen, das
beim Beta-Zerfall mitspielt und die fehlende Energie ausgleicht. Pauli hatte diesem seinem spekulativen »Sorgenkind«, wie er selbst es nannte, den Namen »Neutron« gegeben, den es nach 1932 aber nicht mehr behalten konnte. Enrico Fermi wusste Rat und benannte Paulis Hilfsteilchen um. Da es nach den physikalischen Daten sehr viel weniger Masse als das akzeptierte Neutron haben musste, bezeichnete Fermi es als »das kleine Neutrale«, also Neutrino, und mit seiner Hilfe konnte er schließlich komplett notieren, wie ein Beta-Zerfall in seiner Bilanz aussieht:
Neutron → Proton plus Elektron plus Neutrino
Als Enrico Fermi über den
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