Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Folge führt, »dass für einige Zeit nachher kein einziges Teilchen genügend Energie besitzen wird, um den Kern verlassen zu können«.
Bild 14
Das Bohr’sche Tröpfchenmodell: Die Idee des Zwischenkerns (»compound nucleus«) wurde von Bohr mithilfe eines mechanischen Modells veranschaulicht. Den anfänglich vorhandenen Kernteilchen wird ein weiteres Neutron hinzugefügt, das sich eingliedern kann.
In Bohrs klassischem Atommodell konnten sich die Elektronen bekanntlich über Entfernungen bewegen, die der Größe der Atome entsprachen. In seinem Tröpfchenmodell des Atomkerns hingegen konnten sich die Kernteilchen, die bald Nukleonen heißen würden, nur sehr begrenzt bewegen. Ihnen standen für ihre Schwingungen nur Strecken zur Verfügung, die deutlich kleiner als der Kern waren. Bohr spürte, dass zwischen den Atomen und ihren Kernen wesentliche Unterscheidungen zu treffen waren, und er war in seinem Denken spätestens ab 1937 darauf vorbereitet, dass »die enge Packung der Teilchen im Kern« den Austausch von Energien ermöglicht, der »bei den eigentlichen Kernreaktionen eine ausschlaggebende Rolle spielt«.
Bohrs überragende Persönlichkeit und seine Autorität in Sachen Intuition führten übrigens dazu, dass seine feste Überzeugung, Atomhüllen und Atomkerne müssten als Außen und Innen in einer Theorie mehr oder weniger komplementär zu behandeln sein, die Mehrzahl der Physiker in diesem Denken gefangen hielt. Die Ähnlichkeiten im Verhalten der Elektronenschalen und der Kernzustände wurden dadurch lange übersehen, und es dauerte bis in die Nachkriegszeit, ehe durch die damals in Heidelberg tätigen Maria Goeppert-Mayer (1906–1972) und Hans Jensen (1907–1973) gezeigt wurde, dass auch Atomkerne auf diskreten Energieniveaus existieren können, die sich statt mit dem Tröpfchen-mit einem Schalenmodell berechnen lassen. Die entscheidende Neuerung besteht darin, in die Rechnungen eine ungewöhnliche Wechselwirkung zwischen dem normalen Drehimpuls eines Teilchens und dem Spin einzuführen und mit dieser sogenannten Spin-Bahn-Kopplung zu erklären, warum gerade die Atomkerne besonders stabil sind, deren Teilchenzahl eine Reihe ergeben. Goeppert-Mayer und Jensen verarbeiteten ihre Entdeckungen 1955 in dem Buch Elementary Theory of Nuclear Shell Structure und nahmen 1963 gemeinsam den Nobelpreis für Physik entgegen.
In dem Schalenmodell bekommen Nukleonen, die in einer ersten Näherung nicht direkt miteinander in Wechselwirkung treten, Energieschalen zugewiesen, die dem Pauli-Prinzip unterliegen und abgeschlossen werden können. Stabile (stationäre) Zustände werden – wie zuvor – durch Quantenzahlen erfasst, mit deren Hilfe sich berechnen lässt, wie viele Teilchen in Kernen zu finden sein sollten, die als besonders stabil gelten. Die dazugehörige Reihe 2, 8, 20, 50, 82 und 126 wird in der Kernphysik als magische Zahlen bezeichnet, die sich bestens im Schalenmodell berechnen und begründen lassen.
Die Kernspaltung
Auch wenn Bohr anders vorging und ohne ein Schalenmodell operierte, so konnte er sich doch vorstellen, dass ein Atomkern ein Neutron einfangen und vorübergehend als Compoundkern existieren kann, wenn er nur schwer genug ist, wie dies etwa beim Uran mit seiner Ordnungszahl 92 der Fall ist. Doch was passiert danach? Bohr vermochte in seinem Modell nicht so recht vorherzusagen, was sich ereignet, wenn sich der erweiterte und dadurch instabile Tropfen wieder beruhigt. An dieser Stelle griffen Fermi und einige Kollegen ein, die zu wissen glaubten, wonach sie zu suchen hatten. Sie waren der Meinung, dass der vergrößerte Kern möglicherweise seinen neuen Umfang beibehält und auf diese Weise in der Natur ein neues Element entsteht. Wenn man zum Beispiel Uran mit Neutronen beschoss, konnten dabei Elemente entstehen, die schwerer als Uran waren. Diese nannte man folglich Transurane, und man machte sich daran, sie aufzuspüren.
Während Bohr sich in diese Richtung orientierte und sich in zahlreichen Gesprächen Gedanken über Anregungszustände von Atomkernen und die Möglichkeit ihrer Deformation machte, versuchten zwei Frauen in Paris und Berlin mithilfe von Experimenten zu erkunden, ob und wie sie die spekulativen Transurane tatsächlich herstellen konnten: Irène Joliot-Curie, die Tochter von Marie Curie (1867–1937), und Lise Meitner (1878–1968), die unter Mithilfe von
Otto Hahn (1879–1968) und Max Planck gelernt hatte, sich im deutschen akademischen Milieu unter lauter
Weitere Kostenlose Bücher