Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
ein atomares
Objekt die Barriere überwinden und folglich den Atomkern verlassen kann – so wie es in der Natur passiert, wenn dort radioaktive Strahlen auftauchen und gemessen werden.
Tatsächlich hatte Gamow in den zwei Monaten in Göttingen das richtig erfasst, was heute im Lehrbuch als Tunneleffekt bekannt ist und zu den zwar vielfach experimentell bestätigten, aber trotzdem wundersam bleibenden Fähigkeiten gehört, über die das Wirkliche offenbar in der Quantenwelt verfügt. Wer einem Kern entkommen will, versucht gar nicht erst den Energiewall um ihn herum zu überspringen, denn dazu reichen die Mittel nicht. Der Trick besteht darin, nicht oben drüber, sondern unten durch zu laufen, den Wall eben zu tunneln, wie man heute dank Gamow sagen kann. Wer auf der Ebene der Anschauung den Tunneleffekt nachvollziehen will, müsste fähig sein, durch eine Wand zu gehen – es wird kolportiert, dass ein Professor der Physik, der zum ersten Mal von dem Tunneleffekt in einem Atom hörte, den Vortragenden empört und leicht verständnislos darauf hingewiesen habe, dass er zwar kaum durch die Wand gehen, wohl aber aus dem Fenster fliegen könne.
Bohr reagierte hingegen begeistert und wollte sofort wissen, wie lange Gamow noch in Kopenhagen bleibe. »Ich bin nur heute da und reise morgen wieder ab, über mehr Mittel verfüge ich nicht«, antwortete dieser wohl, aber Bohr insistierte: »Warum bleiben Sie nicht ein ganzes Jahr bei uns? Ich sorge dafür, dass Sie ein Carlsberg-Stipendium bekommen, was durch unsere Akademie der Wissenschaften vergeben und nicht lange auf sich warten lassen wird. Was meinen Sie?«
Gamow willigte beglückt ein. Mit ihm und seinen Theorien war nun auch die Kernphysik am Blegdamsvej angekommen.
Neutron und Neutrino
Auf diese spontane Weise engagierte Bohr mit Gamow den ersten Theoretiker, der sich nach dem doppelten Durchbruch zur Quantenmechanik auf die Frage konzentrierte, was Atomkerne
zusammenhält und wie sie es doch schaffen, ab und zu einmal locker zu werden und zu zerfallen beziehungsweise zu desintegrieren. Es war inzwischen deutlich und mehrfach nachgewiesen worden, dass die radioaktive Strahlung aus dem Inneren eines Atoms – aus seinem Kern – kommt und nichts mit den Elektronen zu tun hat, die sich in den äußeren Schalen aufhalten und den dazugehörenden Elementen ihre chemischen Eigenschaften geben. Bei allen chemischen Reaktionen bleiben die Kerne unbeteiligt und fest, aber sie ändern sich, wenn das Phänomen der Radioaktivität auftritt, das somit tatsächlich dem Innersten der Welt – dem eigentlichen Zentrum – entspringt.
Überraschend an diesen Nachweisen war für die Wissenschaftler vor allem, dass der Beta-Zerfall im tiefen Inneren des Atomkerns selbst stattfindet und die Elektronen, aus denen die dazugehörigen Strahlen bestehen, tatsächlich aus dem Zentrum der Struktur stammten. Dies gab allein deshalb große Rätsel auf, weil die von Heisenberg dargestellte Unbestimmtheit in der Quantenwelt ein Elektron, das sich im Bereich des zwar massiven, aber extrem winzigen Kerns aufhält, dazu zwingt, sich so schnell zu bewegen, dass es den Ort gar nicht halten kann, an dem man es haben möchte.
Nicht nur das Eintreffen Gamows, sondern auch zahlreiche technische und experimentelle Fortschritte – unter anderem dank Anlagen, in denen mit gewaltigen Hochspannungen Atome beschleunigt und zum Zusammenprall gebracht wurden – brachten die Physiker dazu, sich allmählich von den Atomhüllen weg dem Kern zuzuwenden. Vor allem der Beta-Zerfall mit seinen dabei produzierten Elektronen verlangte nach einer Erklärung. Natürlich würde man sich zunächst bemühen, im Rahmen der gerade aufgestellten Quantenmechanik den nach wie vor unverständlichen Zusammenhalt von positiv geladenen Teilchen im Kern – den Protonen – zu erfassen. Aber einige Physiker bevorzugten Spekulationen, die weiter gingen. Sie hofften, dass sich beim Schritt von der Hülle zum Kern erneut die Notwendigkeit ergeben würde, die Physik völlig auf den Kopf zu stellen. Immerhin war ein Atomkern 100 000-mal kleiner als die Hülle, wobei Atome selbst insgesamt 10 000 000-mal kleiner als
makroskopische Objekte waren. Als man aus der anschaulichen Welt auf die atomare Bühne sprang, tauchten die Quanten und mit ihnen eine neue Mechanik auf. Warum sollte beim Sprung in den Atomkern nicht eine ähnliche Rundumerneuerung des physikalischen Denkens notwendig werden? Vielleicht musste für die Physik des
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