Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
anschließend isoliert betrachten ließen. Die Quantenwelt ist aber völlig anders. Offenbar kann sie nicht vollständig reduziert werden. Wenn zwei Teilchen miteinander in Wechselwirkung treten – in Einsteins Beispiel stoßen sie zusammen –, dann werden sie Teil eines physikalischen
Systems (eines Ganzen), das nicht mehr erfasst werden kann, wenn man nur seine Einzelteile beschreibt. Mit anderen Worten: Es gibt Wirkungen in der Realität, die nicht zur Physik gehören und somit per definitionem metaphysisch sind.
Wir können nun nach dem Grund fragen. Denn schließlich bewegen sich die Teilchen voneinander weg, nachdem sie zusammengestoßen sind. Woher kommt die (weniger physische und mehr metaphysische) Korrelation, wenn die (eigentlich physikalische) Wechselwirkung aufgehört hat?
Die Antwort klingt seltsam, aber bei Bohr sind wir an solche Wendungen schon gewöhnt: Die Korrelation besteht nicht zwischen den wirklich vorhandenen Teilchen, sie besteht zwischen den Quantenzuständen, die mit diesen Teilchen verbunden sind; genauer gesagt: zwischen den Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die festlegen, wie die Teilchen sich verhalten können. Im Rahmen der Quantenmechanik können diese Korrelationen die messbaren Eigenschaften der Teilchen auch dann noch beeinflussen, wenn sie selbst längst getrennt sind und nicht mehr miteinander in Wechselwirkung stehen.
Altes und neues Denken bei den Atomen
Der (naive) Atomismus der Antike
Materie besteht aus kleinsten Bausteinen (Atomen), die nicht weiter zerlegbar sind.
Der (quantentheoretische) Holismus der Moderne
Die materielle Realität ist ein Ganzes, das nicht aus einzelnen Teilen aufgebaut ist. Die in einem Experiment vorgenommenen Aufteilungen eines Ganzen (zum Beispiel eines Atoms oder Moleküls) führen zu Teilsystemen, die aufgrund von Korrelationen verschränkt sind, die in der Quantenmechanik enthalten und von Einstein beschrieben worden sind.
Die alten (isolierten) Einheiten
Elektronen, Atome oder Moleküle galten als eigenständige Gebilde, die für sich existieren konnten.
Die neuen (kontextuellen) Einheiten
Elektronen, Atome oder Moleküle sind offene Systeme, die dank ihrer Wechselwirkung mit der Umgebung existieren. Mit diesen Befunden verschwindet die Möglichkeit, den (naiven) Atomismus der Antike weiter zu vertreten. Es wird vorgeschlagen, ihn zu ersetzen.
Der neue (archetypische) Atomismus
Das Atom entspringt nicht als logische oder empirische Größe der experimentellen Naturforschung, sondern als archetypische Idee dem kollektiven Unbewussten des Menschen.
Anmerkungen
Diese Konzeption macht zum einen verständlich, warum das Atom weiter so heißt, obwohl der Name etwas Falsches sagt und im 19. Jahrhundert abgeschafft werden sollte. Sie erlaubt zum anderen nachzuvollziehen, warum das Atom als Metapher taugt und in vielen Bereichen auftaucht, etwa wenn von der Atomisierung der Gesellschaft gesprochen und Menschen eine atomisierte Moral zugestanden wird. Und schließlich erklärt sie, warum niemand zögert, das Wort Atom zu verwenden. Es scheint, dass alle verstehen, was damit gemeint ist. (Nach der Mitschrift eines Vortrags von Hans Primas im März 1998 zum Thema »Die Überwindung des Atomismus durch die Quantentheorie«.)
Wir erkennen eine phantastische Ganzheit, die sich erst recht in der besonderen Form der Wechselwirkung zeigt, die zum Messvorgang erforderlich ist. Durch die Beobachtung werden der Messapparat und das untersuchte System mit Quanten zu einem Ganzen verknüpft. Sie sind nun nicht mehr einzeln beschreibbar, über sie können wir noch nicht einmal mit gleichen Begriffen reden. Denn das zum Versuch verwendete Gerät gehorcht laut Bohr der klassischen Physik und muss demnach mit deren Konzepten beschrieben werden. Die Teilchen selbst gehorchen aber der Quantenphysik. Wenn wir reden, müssen wir somit etwas tun, was wir nicht dürfen, nämlich mit den Worten trennen, was der Sache nach ein Ganzes ist.
Durch diese eigentlich unzulässige Trennung verlieren wir Informationen, was zur Folge hat, dass wir nur noch die Wahrscheinlichkeit
kennen, mit der ein Quantenobjekt etwas tut. Dennoch bleibt unsere Beschreibung des Systems nach Bohr vollständig, wenn wir die experimentelle Anordnung mit einbeziehen, mit der wir die Teilchen analysieren. Die wichtige Konsequenz, die hieraus zu ziehen ist, macht den erwähnten metaphysischen Aspekt der Komplementarität deutlich: In der Quantenmechanik kann man nichts über ein
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