Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
die aufeinander zufliegen, zusammenstoßen und wieder auseinanderfliegen. Für eine solche Situation erlaubt die Quantenmechanik kurioserweise, dass sowohl die Summe der Impulse als auch die Differenz (Abstand) der Orte gleichzeitig einen festen Wert haben. Außerdem legen die Gesetze der Physik fest, wie die entsprechenden Werte vor und nach dem Zusammenstoß korreliert sind. Nun kann ein Beobachter am Teilchen A eine Messung vornehmen, er bestimmt zum Beispiel seinen Impuls. Mit dem oben Gesagten wird er dadurch in die Lage versetzt, mit Sicherheit den Wert des Impulses von Teilchen B vorherzusagen. Im Sinne des Einstein’schen Kriteriums entspricht dann diesem Impuls ein Element der physikalischen Wirklichkeit. Analog kann man für den Ort von B argumentieren. Dies wäre aber
ein Widerspruch zur Beschreibung der Quantenmechanik. Das Teilchen B kann in dieser Theorie keine festen Werte für diese Größen haben.
Als Bohr von dem Aufsatz erfuhr, ließ er alle laufenden Arbeiten ruhen; er antwortete sofort. Kaum vier Monate nach Erscheinen der Arbeit traf seine Antwort bei der Physical Review ein, derselben Zeitschrift, in der Einstein sein Paradoxon publiziert hatte. Bohr argumentierte dabei wie folgt: Ein beobachtetes Objekt und der zu seiner Messung verwendete Apparat bilden gemeinsam eine untrennbare Einheit, die auf der quantenmechanischen Ebene nicht in Form von getrennten Teilen untersucht werden kann. Die Kombination eines gegebenen Teilchens mit einer bestimmten experimentellen Anordnung unterscheidet sich wesentlich von der Kombination desselben Teilchens mit einer anderen Anordnung. Die Beschreibung des Zustands des ganzen Systems drückt eine Relation zwischen dem Teilchen und allen vorhandenen Messvorrichtungen aus. Mit anderen Worten, selbst wenn keine Messung an Teilchen B erfolgt, so ist doch sein Zustand (also die physikalische Wirklichkeit, deren Teil es ist) nicht unabhängig von der Anwesenheit des Apparats, mit dem die Messung an Teilchen A vorgenommen wird. Daher scheiterte Bohr zufolge das Argument von Einstein, Podolsky und Rosen.
Der entscheidende Punkt liege für ihn darin, schrieb Bohr 1935, dass es der »mit ›Komplementarität‹ bezeichnete Gesichtspunkt« ist, »unter dem die quantenmechanische Beschreibung physikalischer Systeme innerhalb ihres Geltungsbereiches allen rationalen Erfordernissen der Vollständigkeit genügt«. Im Einzelnen wies Bohr darauf hin, dass Einsteins Ausdruck »ohne ein System zu stören« mehrdeutig sei. Natürlich störe ein Beobachter von Teilchen A das andere Teilchen B nicht direkt physikalisch. Seine Messung übe aber
einen Einfluss auf die tatsächlichen Bedingungen [aus], welche die möglichen Arten von Voraussagen über das zukünftige Verhalten des Systems definieren. Da diese Bedingungen ein immanentes Element der Beschreibung jeglichen Phänomens
ausmachen, dem man mit Recht den Begriff »physikalische Wirklichkeit« zuschreiben kann, sehen wir, dass die Argumentation [von Einstein, Podolsky und Rosen] nicht ihre Schlussfolgerung rechtfertigt, die quantenmechanische Beschreibung sei wesentlich unvollständig... Tatsächlich ist es nur der gegenseitige Ausschluss von je zwei die eindeutige Definition komplementärer physikalischer Größen gestattenden Versuchsanordnungen, der neuen physikalischen Gesetzen Raum schafft, deren Koexistenz auf den ersten Blick mit den Grundprinzipien der Naturwissenschaften unvermeidbar zu sein scheint. Es ist gerade diese völlig neue Situation bezüglich der Beschreibung physikalischer Phänomene, deren Kennzeichnung mit dem Begriff Komplementarität angestrebt wird.
Die Ganzheit
In dieser von Bohr beschriebenen radikalen Revision der Einstellung zur physikalischen Realität kündigt sich eine seltsame Korrelation an, die man mit dem Begriff »Ganzheit« kenntlich machen kann. Bohr hatte sich bereits gleich zu Beginn der neuen Atomphysik auf diese »Eventualität« eingestellt und sie in einem am 18. April 1925 verfassten Brief an Heisenberg als »Kopplung der Quantenprozesse in entfernten Atomen« bezeichnet. Im nächsten Satz hatte er dann sofort eingeräumt, dass die Kosten dieser Annahme »sich nicht in der gewöhnlichen raum-zeitlichen Beschreibung ermessen lassen« und also eher ins Metaphysische hineinreichen. Diese Einschätzung bestätigte sich nun ein Jahrzehnt später in aller Deutlichkeit.
Die von der klassischen Physik beschriebene Welt konnte stets in ihre Einzelteile zerlegt werden, die sich
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