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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selma Lagerloef
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Seite dieses Dickichts kam er auf einen offenen Platz, wo
     der Erdboden aus Schlamm und losem Morast bestand. In der Mitte war ein Wasserloch mit schwarzem Wasser, und rings um das
     Ganze standen hohe Tannen, die fastkahl waren vor Alter und Gebrechlichkeit. Der Ort gefiel Graufell gar nicht, und er würde ihn sofort wieder verlassen haben,
     wenn er nicht einige hellgrüne Kallablätter entdeckt hätte, die neben dem Wasserloch wuchsen.
    Als er nun den Kopf über die Kallablätter beugte, weckte er unversehens eine große, schwarze Natter auf, die darunter lag
     und schlief. Der Elch hatte Karr von den giftigen Kreuzottern reden hören, die im Walde lebten, und als nun die Natter den
     Kopf erhob, ihre gespaltene Zunge aussteckte und ihn anzischte, glaubte er, es sei ein sehr gefährliches Tier, dem er gegenüberstand.
     Er erschrak, hob das Bein in die Höhe, schlug mit der Schale zu und zermalmte den Kopf der Schlange. Dann eilte er in wilder
     Flucht davon.
    Sobald Graufell weg war, tauchte noch eine Natter, die ebenso lang und schwarz war wie die erste, aus dem Wasserloch auf.
     Sie kroch zu der Getöteten hin und ließ ihre Zunge über den zerschmetterten Kopf gleiten.
    »Bist du wirklich tot, alte Harmlos?« zischte die Natter, »Und wir zwei haben doch so viele Jahre zusammen gelebt! Wir hatten
     uns so lieb und haben es so gut hier im Sumpf gehabt, daß wir älter geworden sind als alle anderen Nattern im Walde! Das war
     der größte Kummer, der mich treffen konnte.«
    Die Natter war so betrübt, daß ihr langer Körper sich zusammenringelte, als sei sie verwundet. Selbst die Frösche, die in
     beständiger Angst vor ihr lebten, mußten sie bemitleiden.
    »Wie schlecht muß der sein, der eine arme Natter tötet, die sich nicht verteidigen kann!« zischte die Natter. »Werdas getan hat, verdient eine harte Strafe!« Die Natter lag noch eine Weile da und wand sich in ihrem Schmerz, plötzlich aber
     erhob sie den Kopf. »So wahr ich Hilflos heiße und die älteste Natter im Walde bin, soll dies gerächt werden. Ich werde nicht
     ruhen, ehe nicht der Elch tot am Boden liegt so wie mein altes Weibchen.«
    Als die Natter dies Gelübde getan hatte, rollte sie sich wie ein Knäuel zusammen, legte sich hin und grübelte. Aber man kann
     sich kaum etwas denken, was schwieriger für eine arme Natter ist, als Rache an einem großen, starken Elch zu nehmen, und der
     alte Hilflos lag Tage und Nächte da, ohne einen Ausweg zu finden.
    Aber eines Nachts, als er so mit seinen Rachegedanken da lag und nicht schlafen konnte, hörte er ein schwaches Rascheln über
     sich. Er sah hinauf und gewahrte einige weiße Nonnenfalter, die zwischen den Bäumen spielten. Er verfolgte sie lange mit den
     Augen und dann fing er an, laut vor sich hin zu zischen, schließlich aber schlief er ein, und da schien er zufrieden zu sein
     mit dem, was er gefunden hatte.
    Am nächsten Vormittag begab sich Hilflos zu Kryle, der Kreuzotter, die in einem hochgelegenen und steinigen Teil der Tannenschonung
     wohnte. Ihr erzählte er von dem Tod der alten Natter und bat sie, falls ihr Biß Tod bringen könne, ihn zu rächen. Aber Kryle
     war keineswegs geneigt, sich mit den Elchen einzulassen. »Wenn ich einen Elch angriffe,« sagte sie, »so würde er mich augenblicklich
     totschlagen. Die alte Harmlos ist tot, und wir können sie nicht wieder ins Leben zurückrufen. Warum sollte ich mich um ihretwillen
     ins Unglück stürzen?«
    Als die Natter diese Antwort erhielt, erhob sie den Kopf einen halben Fuß von der Erde und zischte fürchterlich. »Wisch,
     wasch! Wisch, wasch!« sagte sie. »Es ist ein Jammer, daß du, die du so gute Waffen bekommen hast, so feige bist, daß du sie
     nicht zu gebrauchen wagst.« Als die Kreuzotter das hörte, wurde auch sie zornig. »Kraus davon, du alter Hilflos!« fauchte
     sie. »Das Gift läuft mir in die Zähne herunter, aber ich will den schonen, der für meinen Verwandten gilt!«
    Die Natter aber rührte sich nicht vom Fleck und eine ganze Weile lagen die Tiere da und fauchten einander Grobheiten ins Gesicht.
     Als Kryle so wütend geworden war, daß sie nicht mehr fauchen, sondern nur noch zischen konnte, änderte Hilflos sogleich sein
     Benehmen und begann in ganz anderem Ton zu sprechen.
    »Eigentlich hatte ich noch ein Anliegen, Kryle,« sagte er und senkte die Stimme zu einem sanften Flüstern. »Aber nun habe
     ich dich wohl so erzürnt, daß du mir gar nicht mehr helfen willst?«
    »Wenn du nur keine

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