Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
so daß man bei niedrigem Wasserstand trockenen Fußes hinüberkommen konnte.
Es regnete ebenso arg draußen auf dem Werder wie überall sonst. Der Junge konnte nicht schlafen vor den Regentropfen, die
unaufhörlich auf ihn herabpeitschten. Schließlich entschloß er sich, auf dem Werder umherzuwandern. Er fand, daß er den Regen
nicht so sehr merkte, wenn er sich bewegte. Kaum war er einmal rund um den Werder gegangen, als er ein Plätschern im Wasser
zwischen dem Werder und dem Ufer vernahm, und gleich darauf sah er ein einzelnes Pferd zwischen den Büschen daherkommen. Es
war ein altes Pferd, so elend und erbärmlich, wie er nie etwas Ähnliches gesehen hatte. Es war im Rücken gebrochen, und steifbeinig
war es und so mager, daß man seine Rippen zählen konnte. Es hatte weder Zügel noch Sattel, nur einen alten Zaum, von dem ein
halbverfaultes Tauende herabhing. Es war ihm offenbar nicht schwer geworden, sich loszureißen.
Das Pferd ging geradeswegs auf die Stelle zu, wo die Wildgänse standen und schliefen, und der Junge war bange, daß es auf
sie treten würde. »Wo willst du hin? Sieh dich vor!« rief er. – »Also da bist du!« sagte das Pferd. »Ich bin eine Weile gegangen,
um dich zu finden.« – »Hast du von mir reden hören?« fragte derJunge ganz erstaunt. – »Ohren habe ich doch wenigstens, wenn ich auch alt bin. Es reden viele von dir in dieser Zeit.«
Während das Pferd sprach, bog es den Kopf herab, um besser sehen zu können, und der Junge bemerkte, daß es einen kleinen Kopf
mit schönen Augen und eine feine, weiche Schnauze hatte. »Es ist seiner Zeit ein gutes Pferd gewesen, wenn es auch in seinen
alten Jahren mit ihm zurückgegangen ist,« dachte er.
»Ich wollte dich bitten, mit mir zu kommen und mir bei etwas behilflich zu sein,« sagte das Pferd.
Der Junge hatte keine große Lust, mit jemand, der so erbärmlich aussah, irgendwohin zu gehen, und entschuldigte sich mit dem
schlechten Wetter. »Es ist nicht schlimmer für dich, auf meinem Rücken zu sitzen, als hier zu liegen,« sagte das Pferd. »Aber
du magst vielleicht nicht mit so einer elenden Kracke wie ich bin, gehen« – »Ach ja, das ist es nicht,« sagte der Junge. –
»Dann wecke die Gänse, damit wir mit ihnen verabreden können, wo sie dich morgen abholen sollen,« sagte das Pferd.
Gleich darauf saß der Junge auf dem Rücken des Pferdes. Das alte Pferd holte besser aus, als der Junge es ihm zugetraut hatte,
aber doch war es ein langer Ritt in Nacht und Regen, bis sie vor einem großen Wirtshaus haltmachten. Dort sah es sehr ungemütlich
aus, die Wagenspuren auf dem Wege waren so tief, daß der Junge überzeugt war, er würde ertrinken, wenn er da hinein fiel.
An dem Gitter, das den Hof umgab, waren dreißig, vierzig Pferde und Kühe angebunden ohne irgendwelchen Schutz gegen den Regen,
und drinnen im Hofe standenKarren mit hohen Kisten, in denen Schafe und Kälber und Schweine und Hühner eingeschlossen waren.
Das Pferd stellte sich an das Gitter. Der Junge blieb auf seinem Rücken sitzen, und mit seinen guten Nachtaugen konnte er
deutlich sehen, wie schlecht für die Tiere gesorgt war.
»Wie geht es zu, daß ihr hier draußen im Regen steht?« fragte er. – »Wir sind auf dem Wege zum Markt in Örebro, aber der Regen
zwang uns, hier einzukehren. Es ist ein Wirtshaus, aber da sind so viele Reisende, daß für uns kein Platz mehr im Stall war.«
Der Junge erwiderte nichts, er saß nur da und sah sich um. Nicht viele von den Tieren schliefen, und von allen Seiten hörte
er Klagen und Unzufriedenheit. Sie hatten alle guten Grund zu jammern, denn das Wetter war noch schlechter geworden als früher
am Tage. Es wehte ein eisig kalter Wind, und der Regen, der jetzt herabpeitschte, so daß es brannte, war mit Schnee vermischt.
Es war leicht zu verstehen, womit er dem Pferd behilflich sein sollte.
»Kannst du sehen, daß dem Wirtshaus gerade gegenüber ein großer Bauerhof liegt?« fragte das Pferd. – »Ja,« sagte der Junge,
»das sehe ich, und ich kann nicht begreifen, daß man nicht um Unterkunft für euch dort gebeten hat. Aber vielleicht ist es
da auch schon voll?« – »Nein, da sind keine Gäste,« sagte das Pferd. »Die, denen der Hof gehört, sind so geizig und ungefällig,
daß es nicht nützen kann, sie um Unterkunft zu bitten.« – »Hängt das so zusammen? Ja, dann werdet Ihr wohl bleiben müssen,
wo Ihr seid.« – »Aber ich bin auf demHof geboren und
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