Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
»Die
Stadt hat es wirklich verstanden, sich eine gute Lage zu schaffen,« dachte der Junge. »Ich möchte wohl wissen, wie sie heißt.«
Im selben Augenblick fuhr er heftig zusammen und sah sich um. Er war völlig von der Betrachtung der Gegend in Anspruch genommen
gewesen und hatte nichtbemerkt, daß Menschen auf den Aussichtsturm gekommen waren.
Sie kamen jetzt die Treppe hinaufgelaufen. Der Junge hatte gerade noch Zeit, sich nach einem Versteck umzusehen, um sich dort
zu verbergen, da waren sie auch schon oben.
Es war eine Schar junger Leute, die sich auf einer Fußwanderung befanden. Sie sprachen davon, daß sie ganz Jämtland durchstreift
hatten und freuten sich nun, daß sie Östersund noch am vorhergehenden Abend erreicht hatten, und daß sie einen so schönen,
klaren Morgen hatten, um die weite Aussicht vom Östberge hier auf dem Frösö genießen zu können. Von hier aus konnten sie über
zwanzig Meilen nach allen Seiten sehen, und noch einen letzten Blick auf ihr liebes Jämtland werfen, ehe sie von dannen zogen.
Sie zeigten einander die vielen Kirchen, die rings um den See lagen. »Dort unten haben wir Sunnek,« sagten sie, und da liegt
Marby und da drüben Hallen. Die Kirche hier im Norden ist die Bödöerkirche und die dort an der Eisenbahn die von Frösö.« Dann
begannen sie, von den Bergen zu sprechen. Die zunächstgelegenen waren die Oviksfjelde. Darin waren sie sich alle einig. Aber
dann waren sie sich nicht klar darüber, welches wohl der Klövsjöfjeld sei, und welcher Gipfel der Anarisfjeld sein könne,
und wo der Vesterfjeld und der Almåsaberg und der Åreskutan lägen.
Während sie hierüber redeten, holte ein junges Mädchen eine Karte heraus, breitete sie auf ihrem Schoß aus und begann, sie
zu studieren. Plötzlich sah sie auf. »Wenn ich Jämtland so auf der Karte sehe,« sagte sie, »so findeich, daß es einem großen, stolzen Felsen gleicht. Ich denke mir immer, daß ich eines schönen Tages hören werde, Jämtland
hat einstmals ganz aufrecht dagestanden und geradeswegs zum Himmel hinauf gezeigt.« – »Das müßte wahrlich ein riesiger Felsen
sein,« meinte ein anderer und lachte sie aus. »Freilich, und darum ist er auch wohl umgefallen. Seht aber doch selbst einmal,
gleicht Jämtland nicht einem richtigen Hochgebirge mit breitem Fuß und spitzem Gipfel!« – »Es paßt gar nicht schlecht für
ein Gebirgsland, selbst auszusehen wie ein Felsen,« sagte einer von den jungen Leuten. »Aber obwohl ich andere Sagen von Jämtland
gehört habe, so habe ich doch niemals ...« – »Hast du Sagen von Jämtland gehört?« rief das junge Mädchen, und ließ ihm nicht
einmal Zeit, den Satz zu vollenden. »Dann mußt du sie uns gleich erzählen. Das paßt nirgends besser als hier oben, wo man
das ganze Land sehen kann.«
Alle stimmten darin überein, und der junge Mann ließ sich nicht lange nötigen, sondern begann sogleich:
Die Sage von Jämtland.
»Zu jenen Zeiten, als es noch Riesen in Jämtland gab, geschah es einmal, das ein alter Bergriese auf dem Hof vor seinem Hause
stand und seine Pferde striegelte. Während er hiermit beschäftigt war, sah er, daß die Pferde vor Angst zu zittern begannen.
›Was fehlt euch nur einmal, meine Pferde?‹ sagte der Riese und sah sich um; er wollte gern wissen, was die Pferde so erschreckt
haben konnte. Es waren jedoch weder Wölfe noch Bären in derNähe zu entdecken. Das einzige, was er sehen konnte, war ein Wandersmann, der lange nicht so groß und stark war, wie er selbst,
der aber doch recht ansehnlich war und gute Kräfte zu haben schien. Er war im Begriff, die Leiter hinaufzuklettern, die zu
der Berghütte des Riesen führte. Kaum hatte der alte Bergriese den Wandersmann erblickt, als er von Kopf zu Fuß zitterte,
so wie die Pferde. Er ließ sich nicht die Zeit, seine Arbeit zu vollenden, sondern eilte in die gute Stube zu dem Riesenweib,
das dasaß und Werg auf einer Handspindel spann.
›Was hast du nur?‹ fragte das Weib. ›Du bist ja so bleich wie ein Schneeberg.‹ – ›Sollte ich nicht bleich sein?‹ entgegnete
der Riese. ›Da kommt ein Wandersmann unten vom Wege herauf, und ich bin ebenso sicher, daß es Asa-Thor ist, wie du mein Weib
bist.‹ – ›Das ist gerade kein willkommener Besuch,‹ meinte das Weib. ›Kannst du seine Augen nicht verhexen, so daß er den
ganzen Hof für einen Berg hält und an unserer Tür vorübergeht?‹ – ›Jetzt ist es zu spät, das
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