Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
seinem Rücken durch die Fjorde und Schären ritten. Ich möchte wohl wissen, ob ihr jemand kennt, der noch heute so
etwas tut?« – »Die Frage will ich unbeantwortet lassen,« antwortete der Seemann. »Aber ich halte es für eine ebenso große
Tat, daß wir Menschen unten an der Mündung des Potaelfs eine Stadt gebaut haben, von der Schiffe nach allen Meeren der Welt
ausgehen.« Darauf erwiderte der Riese nichts, und der Seemann, der selbst in Gotenborg beheimatet war, begann nun, ihm die
reiche Handelsstadt mit ihrem großen Hafen, mit ihren Brücken und Kanälen und den langen, schnurgeraden Straßen zu beschreiben;
er erzählte, es wohnten dort so viele tüchtige unternehmende Kaufleute und kühne Seeleute, daß es nicht ausgeschlossen sei,
daß sie Gotenborg zu der hervorragendsten Stadt des Nordens machen könnten.
Bei jeder neuen Antwort, die der Riese erhielt, wurden die Runzeln auf seiner Stirn tiefer und tiefer. Es war leicht zu sehen,
wie mißvergnügt er darüber war, daß sich die Menschen zu Herren über die Natur gemacht hatten. »Ich merke, es hat sich vieles
in Westgötland verändert,« sagte er, »und ich würde gern einmal wieder dahinunterkommen und dies und jenes in Ordnung bringen.«
– Als der Seemann das hörte, erschrak er. Er glaubte nicht, daß der Riese in guter Absicht nach Westgötland kommen würde,
aber er wagte natürlich nicht, sich das merken zu lassen. – »Ihr dürft überzeugt sein, daß man Euch mit offenen Armen empfangen
würde,« sagte er. »Wir wollen alle Kirchenglocken Euch zu Ehren läuten lassen.« – »Es gibt also noch Kirchenglocken inWestgötland?« fragte der Riese und sah ein wenig bedenklich aus. »Sind denn die großen Klingelwerke in Husaby, Skara und
Varnhelm noch nicht in Stücke geläutet?« – »Nein, sie sind noch immer da, und sie haben seit Eurer Zeit viele Schwestern bekommen.
Es gibt jetzt keinen Ort in Westgötland, wo man keine Kirchenglocken hört,« – »Ja, dann muß ich wohl lieber bleiben, wo ich
bin,« sagte der Riese, »denn die Glocken sind schuld daran, daß ich aus der Heimat wegzog.«
Dann versank er in Gedanken, bald aber wandte er sich wieder an die Seeleute: »Nun könnt ihr euch ganz ruhig am Feuer niederlegen
und schlafen,« sagte er. »Morgen früh werde ich dafür sorgen, daß ein Schiff hier vorüberfährt, das euch aufnimmt und in eure
Heimat zurückbringt. Aber für die Gastfreundschaft, die ich euch erwiesen habe, fordere ich von euch nur die Gefälligkeit,
daß ihr, sobald ihr nach Hause kommt, zu dem besten Mann in ganz Westgötland geht, und ihm diesen Ring gebt. Grüßt ihn von
mir und sagt ihm, wenn er den an seinen Finger steckt, wird er noch viel mehr werden, als er jetzt ist.«
Sobald die Seeleute nach Hause gekommen waren, gingen sie zu dem besten Mann in Westgötland und gaben ihm den Ring. Aber der
war zu klug, um ihn gleich an den Finger zu stecken. Statt dessen hängte er ihn an eine kleine Eiche, die auf seinem Hofe
stand. Und sofort begann die Eiche so gewaltig zu wachsen, daß alle es sehen konnten. Sie trieb neue Schößlinge und sandte
Zweige nach allen Richtungen aus, der Stamm wurde dicker und die Rinde immer härter. Der Baum bekam neue Blatter und warf
sie wieder ab, setzte Blüten und Früchte an und wurde inkurzer Zeit so groß, daß niemand eine gewaltigere Eiche gesehen hatte. Aber kaum war sie ausgewachsen, als sie ebenso schnell
zu verwelken begann. Die Zweige fielen ab, der Stamm wurde hohl, und der Baum verfaulte, so daß bald nichts weiter von ihm
übrig war als ein Stumpf.
Da nahm der beste Mann in Westgötland den Ring und warf ihn weit weg. »Dies Geschenk des Riesen hat die Macht, daß es einem
Mann große Kräfte verleihen und ihn für kurze Zeit hervorragender machen kann als alle anderen,« sagte er. »Aber es wird ihn
veranlassen, sich zu überheben, so daß es mit seiner Tüchtigkeit und seinem Glück bald ein Ende hat. Ich will nichts mit dem
Ring zu schaffen haben, und ich will nur hoffen, daß niemand ihn findet, denn er ist uns nicht in guter Absicht gesandt.«
Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß jemand den Ring gefunden hat. Sooft sich ein guter Mensch über seine Kräfte anstrengt,
Nutzen zu schaffen, kann man nicht umhin, daran zu denken, ob er nicht etwa den Ring gefunden hat, und ob es nicht dieser
Ring ist, der ihn zwingt, so zu wirken, daß er sich vor der Zeit aufreibt und sein Werk unvollendet
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