Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
elendiglich umkommen zu lassen, wenn es in ihrer Macht stand, ihm zu helfen.
»Was sitzt du da und glotzt?« fragte der junge Adler. »Hörst du nicht, daß ich was zu fressen haben will?«
Akka brütete die Flügel aus und flog nach dem kleinen See unten im Talgrund hinab. Nach einer Weile kehrte sie mit einer Lachsforelle
im Schnabel nach dem Adlerhorst zurück.
Der junge Adler geriet ganz außer sich vor Wut, als sie ihm den Fisch ins Nest legte. »Glaubst du, daß ich so was fresse?«
schrie er, stieß den Fisch beiseite und hieb mit seinem scharfen Schnabel nach Akka. »Schaff' mir ein Schneehuhn oder eine
Wanderratte, hörst du!«
Aber nun streckte Akka den Kopf vor und zwickte denjungen Adler gehörig in die Nackenhaut, »Daß du es weißt,« sagte die Alte, »wenn ich dir in Zukunft Futter verschaffen soll,
so mußt du zufrieden sein mit dem, was ich dir geben kann. Dein Vater und deine Mutter sind tot, von denen kannst du also
keine Hilfe mehr erwarten; wenn du aber Lust hast, hier zu liegen und zu verhungern, während du auf Schneehühner und Wanderratten
wartest, so soll es mir recht sein!«
Nachdem Akka das gesagt hatte, flog sie gleich davon und ließ sich erst nach einer ganzen Weile wieder bei dem Adlerhorst
sehen. Da hatte der junge Adler den Fisch verzehrt, und als Akka ihm einen neuen Fisch hinlegte, verschlang er ihn sofort,
obwohl man es ihm gut anmerken konnte, daß er ihn ganz abscheulich fand.
Es wurde ein schweres Stück Arbeit für Akka. Die alten Adler ließen sich nie wieder blicken, und sie mußte nun allein dem
Jungen alle die Nahrung beschaffen, die es nötig hatte. Sie brachte ihm Fische und Frösche, und diese Kost schien ihm nicht
schlecht zu bekommen, denn es wurde groß und kräftig. Bald vergaß es seine Eltern, die Adler, und glaubte, daß Akka seine
rechte Mutter sei. Akka ihrerseits liebte das Junge wie ihr eigenes Kind. Sie erteilte ihm eine gute Erziehung und gab sich
Mühe, ihm seinen wilden Sinn und seinen Hochmut abzugewöhnen.
Nachdem ein paar Wochen vergangen waren, merkte Akka, daß die Zeit kam, wo sie mausere und folglich nicht imstande sein würde,
nach dem Horst hinaufzufliegen. Da konnte sie dem jungen Adler während eines ganzen Monats kein Fressen hinaufbringen und
er mußte elendiglich verhungern.
»Hör' einmal, Gorgo,« sagte Akka eines Tages zu dem jungen Adler. »Jetzt kann ich nicht mehr mit Fischen zu dir hinaufkommen.
Es handelt sich nun darum, ob du den Mut hast, dich ins Tal hinunterzuwagen, so daß ich dir auch ferner Nahrung verschaffen
kann. Du mußt jetzt wählen, ob du hier oben verhungern oder dich ins Tal hinunterwerfen willst, freilich kann dich das auch
dein Leben kosten.«
Ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, stieg der junge Adler auf den Rand des Nestes. Er nahm sich nicht einmal
die Mühe, die Entfernung mit dem Blick zu messen, sondern breitete die kleinen Flügel aus und flog hinunter. Er überschlug
sich ein paarmal in der Luft, wußte aber doch seine Flügel so geschickt zu benutzen, daß er einigermaßen unbeschädigt unten
im Tale anlangte.
Hier verbrachte nun Gorgo seinen Sommer zusammen mit den kleinen Gösseln und ward ihnen bald ein guter Kamerad. Da er sich
selbst für ein Gössel hielt, gab er sich alle Mühe, so zu leben wie sie, und wenn sie in den See hinausschwammen, watete er
hinter ihnen her, bis er nahe daran war zu ertrinken. Er schämte sich ganz schrecklich, daß er nicht schwimmen lernen konnte,
und er ging zu Akka und beklagte sich. »Warum kann ich nicht ebensogut schwimmen lernen wie die anderen?« fragte er, – »Du
hast zu krumme Zehen und zu große Klauen bekommen, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber darum
brauchst du dich nicht zu grämen, du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden.«
Die Flügel des jungen Adlers wurden bald so groß, daß sie ihn tragen konnten, aber es währte doch noch biszum Herbst, wo die jungen Gänse fliegen lernen sollten, ehe es ihm einfiel, daß er die Flügel zum Fliegen gebrauchen konnte.
Aber dann kam eine stolze Zeit für ihn, denn bei diesen Übungen war er bald der erste. Seine Gefährten blieben nie länger
oben in der Luft, als sie mußten, während er sich fast den ganzen Tag dort aufhielt und sich in der Kunst des Fliegens übte.
Noch war es ihm nicht klar geworden, daß er von anderer Art war als die jungen Gänse, aber er konnte nicht umhin mancherlei
zu
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