Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
Wildgans
gehalten und mit den munteren jungen Gösseln gespielt hatte. Unter den Tieren erlangte er einen großen Ruf wegen seines Mutes
und seiner Kühnheit. Sie pflegten zu sagen, er fürchte sich vor niemand außer vor seiner Pflegemutter, Akka. Sie wußten auch
von ihm zu erzählen, daß er sich nie an einer Wildgans vergriffen habe.
In Gefangenschaft.
Gorgo war erst drei Jahre alt und hatte noch nicht daran gedacht, sich eine Frau zu nehmen und einen Hausstand zu begründen,
als er eines Tages von einem Jäger gefangen und nach dem Freiluftmuseum Skansen verkauft wurde. Dort waren bereits zwei Adler.
Sie wurden in einem Käfig aus eisernen Stangen und Stahldraht gefangen gehalten. Dieser Käfig stand im Freien und war so groß,
daß man darin ein paar Bäume hatte pflanzen und einen ziemlich hohen Hügel aus Steinen errichten können, damit die Adler sich
dort heimisch fühlen sollten. Trotz alledem aber gediehen die Vögel nicht. Sie saßen fast den ganzen Tag regungslos auf demselben
Fleck. Ihr schönes, dunkles Federkleid war zerzaust und glanzlos, und ihre Augen starrten mit hoffnungslosem Sehnen in die
Luft hinaus.
In der ersten Woche, nachdem Gorgo in die Gefangenschaft geraten war, fühlte er sich noch kräftig und lebendig, allmählich
aber befiel ihn eine dumpfe Schlaffheit. Erblieb still auf demselben Fleck sitzen wie die anderen Adler, starrte in die Luft hinaus, ohne etwas zu sehen und wußte nichts
davon, daß die Tage vergingen.
Eines Morgens, als Gorgo wie gewöhnlich in seinem Halbschlaf da saß, hörte er, daß ihn jemand außerhalb des Käfigs anrief.
Er war so stumpfsinnig, daß er sich kaum entschließen konnte, die Augen dahin zu wenden, woher der Laut kam. »Wer ruft mich?«
fragte er. – »Aber, Gorgo, kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin es ja, Däumling, der mit den Wildgänsen flog.« – »Ist Akka
auch gefangen?« fragte Gorgo in einem Ton, als strenge er sich an, nach einem langen Schlaf seine Gedanken zu sammeln. – »Nein,
Akka und der weiße Gänserich und die ganze Schar stiegen jetzt wahrscheinlich wohlbehalten oben in Lappland herum,« antwortete
der Junge. »Nur ich bin hier gefangen.«
Während der Junge sprach, sah er, daß Gorgo den Blick von ihm abwandte und in die Luft hinausstarrte so wie vorher. »Königsadler!«
rief der Junge. »Ich habe nicht vergessen, daß du mich einmal zu den Wildgänsen zurückgetragen und daß du das Leben des weißen
Gänserichs geschont hast. Sage mir doch, ob ich dir nicht auf irgendeine Weise helfen kann!« Gorgo erhob kaum den Kopf. »Störe
mich nicht, Däumling!« sagte er. »Ich sitze hier und träume, daß ich frei oben in der Luft umherschwebe. Ich mache mir nichts
daraus, zu erwachen.« – »Du solltest dich ein wenig bewegen und achtgeben, was um dich her vorgeht,« ermahnte der Junge, »sonst,
fürchte ich, wirst du bald ebenso elendig aussehen wie die anderen Adler.« – »Ich wollte, ich wäre schon so wie die. Siegehen so völlig in ihren Träumen auf, daß sie nichts mehr stören kann,« sagte Gorgo.
Als die Nacht anbrach und alle Adler schliefen, vernahm man ein leises Kratzen an dem Stahldrahtnetz, das den Käfig überdachte.
Die beiden alten, stumpfsinnigen Gefangenen ließen sich nicht durch das Geräusch stören, Gorgo aber erwachte. »Wer ist da?
Wer ist da oben auf dem Dach?« fragte er.
»Ich bin es, Gorgo, – Däumling!« antwortete der Junge. »Ich sitze hier und feile den Draht durch, damit du hinausfliegen kannst.«
Der Adler hob den Kopf und konnte in der hellen Nacht sehen, wie der Junge dasaß und an dem Netz feilte, das über den Käfig
gespannt war. Einen Augenblick huschte ein Schimmer von Hoffnung über sein Gesicht, gleich aber gewann die Hoffnungslosigkeit
wieder die Überhand. »Ich bin ein großer Vogel, Däumling,« sagte er. »Wie glaubst du nur, daß du so viele Maschen durchfeilen
kannst, daß ich entweichen könnte? Es ist am besten, wenn du aufhörst und mich in Frieden läßt.« – »Schlafe du nur weiter
und kümmere dich nicht um mich!« erwiderte der Junge. »Ich werde weder heute nacht noch morgen nacht fertig, aber ich will
trotzdem versuchen, dich zu befreien, denn hier gehst du ja ganz zugrunde.«
Gorgo schlief wieder ein, aber als er am nächsten Morgen erwachte, sah er gleich, daß eine Menge Maschen durchgefeilt waren.
An dem Tage fühlte er sich gar nicht so schläfrig wie an den vorhergehenden Tagen. Er schlug
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