Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
bemerken, was ihn erstaunte, und er kam immer wieder mit Fragen zu Akka. »Warum laufen die Schneehühner und Wanderratten
davon, sobald sich mein Schatten über dem Felsen zeigt?« fragte er. »Vor den anderen jungen Gänsen sind sie doch nicht so
bange.« – »Deine Flügel sind zu groß geworden, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Das jagt den
kleinen Tieren Furcht ein. Gräme dich aber deswegen nicht, du wirst doch ein tüchtiger Vogel werden!«
Nachdem der Adler Fliegen gelernt hatte, übte er sich auch, Fische und Frösche zu fangen, bald begann er aber auch darüber
nachzugrübeln. »Woher kommt es, daß ich von Fischen und Fröschen lebe?« fragte er. »Das tut ja keins von meinen Geschwistern.«
– »Das kommt daher, weil ich dir keine andere Nahrung bringen konnte, als du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka.
»Aber deswegen brauchst du dich nicht zu grämen! Du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden!«
Als die Wildgänse ihre Herbstreise antraten, flog Gorgo mit ihrer Schar. Er betrachtete sich beständig als zu ihnen gehörig.
Aber die Luft war voll von Vögeln, die sich aufdem Wege nach Süden befanden, und es entstand eine große Bewegung unter ihnen, als Akka mit einem Adler in ihrem Gefolge
erschien. Scharen von Neugierigen umkreisten fortwährend das Volk der Wildgänse und gaben ihre Verwunderung kund. Akka bat
sie, zu schweigen, aber es war unmöglich, so viele böse Zungen im Zaum zu halten. »Warum nennen sie mich einen Adler?« fragte
Gorgo wieder und wieder. Er fühlte sich tief beleidigt. »Können sie denn nicht sehen, daß ich eine Wildgans bin? Ich bin kein
Vogelräuber, der seinesgleichen auffrißt! Wie kommen sie nur einmal auf den Einfall, mir einen so häßlichen Namen zu geben?«
Eines Tages flogen sie über einen Bauerhof hin, wo eine Menge Hühner auf dem Misthaufen scharrten. »Ein Adler! Ein Adler!«
riefen alle Hühner und liefen davon, um Schutz zu suchen. Gorgo aber, der von den Adlern immer als von wilden Bösewichtern
hatte reden hören, vermochte seinen Zorn nicht zu meistern. Er faltete die Flügel zusammen, stieß mit Blitzesgeschwindigkeit
hinunter und schlug die Fänge in eins von den Hühnern. »Ich will dich lehren, daß ich kein Adler bin!« rief er wütend und
hieb mit dem Schnabel auf sein Opfer ein.
Im selben Augenblick hörte er Akka hoch oben aus der Luft nach ihm rufen; er gehorchte sofort und flog hinauf. Die alte Wildgans
kam ihm entgegengeflogen und erteilte ihm eine Züchtigung, »Was fallt dir ein?« rief sie, während sie mit dem Schnabel nach
ihm schlug. »Hattest du etwa die Absicht, das arme Huhn zu zerreißen? Du solltest dich schämen!« Als aber der Adler die Züchtigung,
ohne sich zu wehren, hinnahm, erhob sich unter den großenVogelscharen ringsumher ein Sturm von Hohn und spöttischen Bemerkungen. Der Adler hörte es und wandte sich mit einem zornigen
Blick gegen Akka, wie wenn er sie anfallen wolle. Aber er änderte schnell sein Vorhaben, warf sich mit starkem Flügelschlag
in die Luft hinaus, stieg so hoch empor, daß kein Ruf ihn erreichen konnte, und segelte da oben umher, so lange die Wildgänse
ihn noch sehen konnten.
Drei Tage später erschien er wieder in der Schar der Wildgänse.
»Jetzt weiß ich, wer ich bin,« sagte er zu Akka. »Und wenn ich ein Adler bin, so muß ich auch leben, wie es sich für einen
Adler geziemt, aber deswegen, meine ich, können wir doch gute Freunde bleiben. Dich oder eine aus deiner Schar werde ich niemals
angreifen.«
Aber Akka hatte ihren ganzen Stolz darin gesetzt, daß es ihr gelingen würde, einen Adler zu einem frommen und friedlichen
Vogel zu erziehen, und sie konnte sich nicht darin finden, daß er auf seine eigene Art leben wollte. »Glaubst du, daß ich
Freundschaft mit einem Vogelräuber halten werde?« sagte sie. »Lebe so, wie ich es dich gelehrt habe, dann darfst du, wie bisher,
mit unserer Schar stiegen.«
Sie waren beide stolz und unbeugsam, und keines von beiden wollte nachgeben. So endete es denn damit, daß Akka dem Adler verbot,
sich in ihrer Nähe blicken zu lassen, ja, sie war so böse auf ihn, daß niemand es wagte, in ihrer Gegenwart seinen Namen zu
nennen.
Seit dieser Stunde zog Gorgo im Lande umher, einsam und von allen gescheut, wie es große Räuber sind.Ihm war oft finster zu Sinn, und sicherlich sehnte er sich gar manches Mal nach der Zeit zurück, wo er sich für eine
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