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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Erde durch die Finsternis gegangen waren.
    Der Mond war nicht zu sehen, doch der Himmel hing voller glasklar glitzernder Herbststerne. Außerdem brannten Straßenlaternen und Lichter auf Gebäuden und auf Brücken, die aussahen wie irdische Sterne und sich schimmernd im Wasser der Themse spiegelten.
    Wie im Märchenland, dachte Richard.
    Anaesthesia blies ihre Kerze aus.
    Und er sagte: »Bist du sicher, daß das der richtige Weg ist?«
    »Ja«, antwortete sie. »Ziemlich sicher.«
    Sie näherten sich einer Bank, und kaum daß sein Blick darauf fiel, hatte Richard das Gefühl, als sei diese Bank einer der verlockendsten Gegenstände, die er je gesehen hatte. »Können wir uns setzen?« fragte er.
    Sie zuckte mit den Schultern. Sie setzten sich jeder an ein Ende der Bank.
    »Am Freitag«, sagte Richard, »hatte ich noch einen Job bei einem der besten Investment-Analysten Londons.«
    »Was is’ denn ’n Investmen-Dingens?«
    »Eine Art Job.«
    Sie nickte zufrieden. »Aha. Und …?«
    »Fiel mir bloß gerade wieder ein. Gestern … war es so, als würde ich nicht mehr existieren, für niemanden da oben.«
    »Tust du auch nicht«, erklärte Anaesthesia.
    Ein nächtliches Pärchen, das langsam händchenhaltend das Embankment entlang auf sie zugegangen war, setzte sich mitten auf die Bank, zwischen Richard und Anaesthesia, und begann sich leidenschaftlich zu küssen. »Entschuldigung«, sagte Richard zu ihnen. Der Mann hatte seine Hand unter den Pullover der Frau geschoben und bewegte sie begeistert umher, ein einsamer Reisender, der einen unerforschten Kontinent entdeckt.
    »Ich will mein Leben zurück«, sagte Richard zu ihnen.
    »Ich liebe dich«, sagte der Mann zu der Frau.
    »Aber deine Frau – «, sagte sie und leckte ihm die Wange. »Komm mir nicht mit der«, sagte der Mann.
    »Will ich auch nicht«, sagte die Frau und kicherte betrunken. »Ich komm’ lieber mit dir …« Sie legte eine Hand in seinen Schoß und kicherte noch mehr.
    »Laß uns gehen«, sagte Richard zu Anaesthesia. Langsam fand er die Bank nicht mehr so verlockend, und sie standen auf und gingen davon. Anaesthesia blickte sich neugierig nach dem Paar auf der Bank um, das sich nach und nach in die Horizontale begab.
    Richard sagte nichts.
    »Stimmt was nicht?« fragte Anaesthesia.
    »Rein gar nichts«, sagte Richard. »Lebst du schon immer da unten?«
    »Nee. Geboren bin ich hier oben«, sie zögerte. »Willst du das wirklich hören?«
    Richard stellte beinahe überrascht fest, daß er es durchaus hören wollte. »Ja.«
    Sie spielte mit den ungeschliffenen Quarzperlen, die an einer Kette um ihren Hals hingen, und sie begann zu reden, ohne ihn anzusehen.
    »Nachdem Mum mich und meine Schwestern gekriegt hatte, is’ sie plötzlich durchgedreht. Da is’ so eine Frau gekommen und hat meine Schwestern abgeholt, und ich kam zu meiner Tante. Die wohnte mit so einem Typen zusammen. Der hat mir immer wehgetan. Und nich’ nur das. Ich habs meiner Tante erzählt, und sie hat mich geschlagen. Hat gesagt, ich würde lügen. Und sie würde mir die Polizei auf den Hals hetzen. Aber ich hab’ nich’ gelogen. Da bin ich weggelaufen. An meinem Geburtstag. «
    Sie hatten die Albert Bridge erreicht, ein mit Tausenden von winzigen gelben Lichtern behangenes Kitschmonument.
    »Es war so kalt«, sagte Anaesthesia, und sie hielt inne. »Ich schlief auf der Straße. Tagsüber, wenn es etwas wärmer war, schlief ich, und nachts lief ich umher, nur um in Bewegung zu bleiben. Ich war elf. Zum Essen hab’ ich Brot und Milch aus Hauseingängen geklaut. Gehaßt hab’ ich das. Hab’ immer auf den Straßenmärkten rumgehangen und die verfaulten Äpfel und Orangen und so aufgesammelt, die die Leute wegwarfen. Dann bin ich sehr krank geworden. Ich lebte unter einer Eisenbahnbrücke in Notting Hill. Als ich wieder zu mir kam, war ich in Unter-London. Die Ratten hatten mich gefunden.«
    »Hast du jemals versucht, zu all dem hier zurückzukehren? « fragte er und machte eine Handbewegung. Ruhige, warme, bewohnte Häuser. Autos in der Nacht. Das wahre Leben …
    Sie schüttelte den Kopf. Jedes Feuer brennt, kleines Baby. Das wirst du noch lernen. »Das geht nicht. Entweder das eine oder das andere. Beides gibt’s nicht.«
    »Tut mir leid«, sagte Door stockend. Ihre Augen waren immer noch gerötet.
    Der Marquis, der sich die Zeit vertrieben hatte, indem er mit ein paar alten Münzen und Knochen eine Partie Knucklebones gespielt hatte, sah zu ihr auf. »Tatsächlich ?«
    Sie

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