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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Zeit verschafft, damit Sie verschwinden können.«
    Er befestigte das Ende der Uhrenkette an seinem Wams und ließ die Uhr in seine Uhrentasche gleiten.
    »Was tun Sie da?« fragte Door. »Das ist die Uhr meines Vaters.«
    »Er braucht sie doch nicht mehr, oder? Na also. Sieht ziemlich elegant aus.«
    Er beobachtete, wie die Gefühle über ihr Gesicht flackerten: Kummer, Wut, Resignation.
    »Gehen wir«, sagte sie.
    »Jetzt ist es nicht mehr weit bis zur Night’s Bridge«, sagte Anaesthesia.
    Richard hoffte, daß sie recht hatte. Sie waren schon bei der dritten Kerze angelangt. Es wunderte ihn, daß sie sich immer noch unter London befanden: Er war sich beinahe sicher, daß sie schon fast bis nach Land’s End gelaufen waren.
    »Ich hab’ solche Angst«, fuhr sie fort. »Ich bin noch nie über die Brücke gegangen.«
    »Ich dachte, du wärst schon einmal auf diesem Markt gewesen.«
    »Das ist ein Wandermarkt, du Dummkopf. Hab’ ich dir doch gesagt. Er bewegt sich. Von einem Ort zum anderen. Der letzte, bei dem ich war, fand in diesem großen Uhrenturm statt. Big … Dingsda. Und der nächste war – «
    »Big Ben?«
    »Kann sein. Da waren wir drinnen, da, wo sich diese großen Räder drehen, und ich hab’ das hier gekauft – «
    Sie hielt ihre Halskette hoch. Das Kerzenlicht spiegelte sich gelb schimmernd in dem glänzenden Quarz. Sie lächelte wie ein Kind.
    »Gefällt sie dir?« fragte sie.
    »Sie ist toll. War sie teuer?«
    »Ich hab’ sie gegen was eingetauscht. So läuft das hier unten. Wir tauschen.«
    Und dann bogen sie um eine Ecke und erblickten die Brücke. Es hätte auch eine der Themse-Brücken sein können, dachte Richard; eine riesige steinerne Brücke, die sich über einen Abgrund in die Nacht spannte. Doch darüber war kein Himmel und darunter kein Wasser.
    Sie stieg empor in die Finsternis.
    Richard fragte sich, wer sie gebaut hatte und wann. Er fragte sich, wie so etwas unter London existieren konnte, ohne daß alle davon wußten.
    Hinter sich hörte er Stimmengemurmel.
    Jemand stieß Richard zu Boden. Er schaute hoch. Ein riesiger Mann, primitiv tätowiert, in zusammengeflickten Gummi- und Ledersachen, die aussahen, als seien sie aus Autos herausgeschnitten worden, starrte auf ihn herab. Ihm folgten ein Dutzend andere, männlich wie weiblich: Leute, die aussahen, als seien sie auf dem Weg zu einem besonders armseligen Kostümfest.
    »Jemand«, sagte Varney, der nicht gerade bester Stimmung war, »stand mir im Weg. Jemand sollte aufpassen, wo er hintritt.«
    Richard hatte mal als kleiner Junge auf dem Heimweg von der Schule eine Ratte gesehen, in einem Graben neben der Straße. Als die Ratte Richard erblickte, hatte sie sich auf die Hinterbeine gestellt, gefaucht, einen Satz gemacht und Richard eine Heidenangst eingejagt. Er war zurückgewichen, verblüfft, daß etwas so Kleines so entschlossen war, sich mit etwas so viel Größerem anzulegen.
    Anaesthesia trat zwischen Richard und Varney. Sie funkelte den großen Mann an und fauchte wie eine in die Enge getriebene, wütende Ratte. Varney trat einen Schritt zurück.
    Er spuckte Richard auf die Schuhe. Dann wandte er sich ab, und das Grüppchen ging über die Brücke in die Dunkelheit. »Alles in Ordnung?« fragte Anaesthesia und half Richard wieder auf die Beine.
    »Mir fehlt nichts«, sagte er. »Das war wirklich mutig von dir.«
    Sie schaute schüchtern zu Boden. »Eigentlich bin ich gar nicht mutig«, sagte sie. »Ich fürchte mich immer noch vor der Brücke. Selbst die da eben hatten Angst. Deshalb sind sie alle zusammen rübergegangen. Zu mehreren fühlen sie sich sicherer. Die mit ihrer großen Klappe.«
    »Wenn Sie über die Brücke gehen, komme ich mit«, sagte eine weibliche Stimme.
    Richard sollte es nie gelingen, ihren Akzent einzuordnen. Damals dachte er, sie sei Kanadierin oder Amerikanerin. Später meinte er, sie könnte Afrikanerin gewesen sein oder Australierin oder sogar Inderin. Er konnte es einfach nicht sagen.
    Sie war eine große Frau mit langem lohfarbenem Haar und dunkler karamelfarbener Haut. Sie trug graubraun marmoriertes Leder. Über ihre Schulter hing ein abgenutzter lederner Matchbeutel.
    Sie hatte einen Stab in der Hand, in ihrem Gürtel steckte ein Messer, und an ihrem Handgelenk war eine Taschenlampe befestigt.
    Sie war zweifelsohne die schönste Frau, die Richard je gesehen hatte.
    »Zu mehreren fühlt man sich sicherer. Sie können gerne mit uns kommen«, sagte er nach kurzem Zögern. »Mein Name ist Richard

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