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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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nächsten stehende Person war ein kleinwüchsiger, grauhaariger, ältlicher Ritter, der ganz wie ein kürzlich pensionierter Beamter ausgesehen hätte, fand Richard, wären da nicht der Zinnhelm, der Wappenrock, der ziemlich ungeschickt gestrickte Kettenpanzer und der Speer gewesen. So sah er aus wie ein kürzlich pensionierter Beamter, der, eher gegen seinen Willen, zum Eintritt in die örtliche Laienspieltruppe genötigt worden war, wo er einen Ritter spielen mußte.
    Der kleine graue Mann blinzelte kurzsichtig in Richards Richtung und sagte: »Entschuldigung.«
    »Meine Schuld«, erwiderte Richard.
    »Ich weiß«, sagte der Mann.
    Ein irischer Wolfshund trottete den Gang entlang und blieb neben einem Lautenspieler stehen, der auf dem Boden saß und zerstreut eine frohe Melodie zupfte. Der Wolfshund starrte Richard an, schnaubte verächtlich, legte sich dann hin und schlief ein.
    Am entgegengesetzten Ende des Waggons schäkerte ein ältlicher Falkner, einen haubentragenden Falken auf dem Handgelenk, mit einem kleinen Grüppchen von Damen, die ihr Letztverkaufsdatum bereits alle ein wenig überschritten hatten. Bei einigen war sogar das Haltbarkeitsdatum schon längst abgelaufen. Einige Fahrgäste starrten die vier Reisenden unverhohlen an, andere ignorierten sie ebenso unverhohlen.
    Es war, fand Richard, als hätte jemand einen kleinen mittelalterlichen Hofstaat genommen und ihn, so gut es ging, in ein U-Bahn-Abteil gesteckt.
    Ein Herold hob seine Fanfare an die Lippen und blies ein unmelodisches Signal. Ein massiger älterer Mann in einem voluminösen pelzgesäumten Morgenrock und Pantoffeln torkelte durch die Verbindungstür zum nächsten Abteil, den Arm auf die Schulter eines Hofnarren in einem schäbigen Narrenkostüm gestützt.
    Der riesige Mann war in jeder Hinsicht überlebensgroß. Er trug eine Augenklappe über einem Auge, was dazu führte, daß er ein wenig hilflos und aus dem Gleichgewicht geraten aussah, wie ein einäugiger Vogel. In seinem rotgrauen Bart hingen Essensreste, und am unteren Ende seines schäbigen Pelzgewands lugte etwas hervor, das aussah wie eine Schlafanzughose.
    Das, dachte Richard völlig richtig, muß der Earl sein.
    Der Narr des Earl, ein älterer Mann mit einem verkniffenen Mund und einem angemalten Gesicht, sah aus, als sei er vor hundert Jahren vor einem Leben am Ende der Besetzungslisten der Varietétheater geflohen. Er geleitete den Earl zu einem thronähnlichen geschnitzten Holzsitz, in den sich der Riese ein wenig unsicher niederließ. Der Wolfshund stand auf, trottete durch den ganzen Waggon und ließ sich zu den in Pantoffeln steckenden Füßen des Earl nieder.
    Earl’s Court, dachte Richard. Natürlich. Der Hof des Earl. Und dann begann er zu überlegen, ob es wohl im Barons Court einen Baron gab oder einen Raben im Ravenscourt oder …
    Der kleine alte Ritter hustete asthmatisch und sagte: »Nun denn, Ihr Leut’. Was ist Euer Begehr?«
    Door trat vor. Sie ging sehr aufrecht und wirkte größer und selbstsicherer, als Richard sie bisher gesehen hatte, und sie sagte: »Wir ersuchen um eine Audienz bei Seiner Gnaden, dem Earl.«
    Der Earl rief durch den Waggon: »Was hat die Kleine gesagt, Halvard?« Richard fragte sich, ob er wohl schwerhörig sei. Schlurfend drehte Halvard, der ältliche Soldat, sich um und legte eine Hand an den Mund.
    »Sie ersuchen um eine Audienz, Euer Gnaden«, brüllte er über das Rattern des Zuges hinweg.
    Der Earl schob seine dicke Pelzkappe zur Seite und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Unter seiner Kappe wurde er kahl. »Tatsächlich? Eine Audienz. Prächtig, prächtig. Wer ist es denn, Halvard?«
    Halvard wandte sich ihnen wieder zu. »Er will wissen, wer Ihr seid. Aber bitte faßt Euch kurz.«
    »Ich bin Lady Door«, verkündete Door. »Lord Portico war mein Vater.«
    Die Miene des Earl hellte sich auf, als er das hörte; er beugte sich vor und spähte mit seinem gesunden Auge durch den Qualm. »Hat sie gesagt, sie sei Porticos Älteste? « fragte er den Narren.
    »Jawohl, Euer Gnaden.«
    Der Earl winkte Door zu sich. »Kommt her«, sagte er. »Kommt-kommt-kommt. Laßt mich Euch anschauen.« Sie ging den Waggon entlang und griff beim Gehen, um nicht umzufallen, nach den dicken Seilenden, die von der Decke hingen. Als sie vor dem hölzernen Sessel des Earl stand, knickste sie. Er kratzte sich am Bart und starrte sie an.
    »Wir waren alle sehr bestürzt, als wir von Eures Vaters unglücklichem – «, sagte der Earl und unterbrach sich dann

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