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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Gastfreundschaft mißbraucht«, dröhnte der Earl. »Ich habe gelobt … wenn er je wieder mein Reich betritt, lasse ich ihn ausweiden und räuchern … wie … wie etwas, das man üblicherweise erst, ähm, ausweidet, und dann, äh, räuchert, ähm …«
    »Vielleicht – ein Bückling, Mylord?« schlug der Hofnarr vor. Der Earl zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht von Bedeutung. Wachen, ergreift ihn.«
    Das taten sie. Die Wachen waren zwar beide schon jenseits der Sechzig, doch als sie mit der Armbrust auf den Marquis zielten, zitterten ihre Hände nicht, weder vor Alter noch vor Angst.
    Richard sah Hunter an. Sie wirkte völlig gelassen: Sie betrachtete die Szene beinahe amüsiert, wie ein Theaterstück, das ihr zuliebe aufgeführt wurde.
    Door verschränkte die Arme und reckte sich, legte den Kopf zurück und hob ihr spitzes Kinn. Jetzt sah sie nicht mehr so sehr wie ein zerlumpter Straßenkobold aus, sondern eher wie jemand, der es gewohnt ist, sich durchzusetzen. Die seltsam gefärbten Augen blitzten. »Euer Gnaden, der Marquis begleitet mich auf meiner Suche. Unsere Familien sind seit langem befreundet – «
    »Ja. Das stimmt«, unterbrach sie der Earl zuvorkommend. »Hunderte von Jahren. Hunderte und Aberhunderte. Ich kannte schon Euren Großvater. Ein komischer alter Kauz. Bißchen undurchsichtig.«
    »Aber ich muß Euch sagen, daß ich in einem gewaltsamen Vorgehen gegen meinen Begleiter einen Angriff auf mich und mein Haus sehe.« Das Mädchen starrte zu dem alten Mann empor, der über ihm in die Höhe ragte. Einen Moment lang standen sie stocksteif da. Er zupfte erregt an seinem rotgrauen Bart. Dann schob er die Unterlippe vor wie ein kleines Kind. »Ich will ihn hier nicht haben«, sagte er.
    Der Marquis zog die goldene Taschenuhr hervor, die er in Porticos Arbeitszimmer gefunden hatte. Lässig warf er einen Blick darauf. Dann wandte er sich an Door, als ob nichts geschehen wäre. »Mylady«, sagte er, »offenbar bin ich Ihnen eher von Nutzen, wenn ich diesen Zug verlasse. Außerdem muß ich noch andere Avenuen erkunden.«
    »Nein«, sagte sie. »Wenn Sie gehen, gehen wir alle.«
    »Lieber nicht«, sagte der Marquis. »Hunter wird sich um Sie kümmern, solange Sie sich in Unter-London aufhalten. Wir treffen uns auf dem nächsten Markt. Machen Sie in der Zwischenzeit keine Dummheiten.«
    Der Zug hielt an einer Haltestelle.
    Door fixierte den Earl: riesige, seltsam gefärbte Augen in einem blassen, herzförmigen Gesicht: »Werdet Ihr ihn in Frieden gehen lassen, Euer Gnaden?« fragte sie.
    Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, rieb sich das gesunde Auge und seine Augenklappe und sah sie dann wieder an.
    »Hauptsache, er geht«, sagte der Earl. »Das nächste Mal … «, er fuhr sich mit einem dicken alten Finger über den Adamsapfel, »...Bückling.«
    »Ich finde allein hinaus«, sagte der Marquis zu den Wachen und ging auf die offene Tür zu.
    Halvard hob seine Armbrust und zielte auf den Rücken des Marquis. Hunter streckte die Hand aus und drückte das Ende der Armbrust wieder in Richtung Fußboden.
    Der Marquis trat auf den Bahnsteig, drehte sich um und winkte ihnen zum Abschied ironisch zu. Zischend schloß sich die Tür hinter ihm.
    Der Earl setzte sich in seinen riesigen Sessel am Ende des Waggons. Er sagte nichts.
    Der Zug ratterte und schlingerte durch den dunklen Tunnel. »Wo sind bloß meine Manieren?« murmelte der Earl vor sich hin. Er schaute sie mit einem weitaufgerissenen Auge an. Dann sagte er es noch einmal, mit einem verzweifelten Dröhnen in der Stimme, das Richard wie den Beat einer Bass-drum im Magen spürte. »WO SIND BLOSS MEINE MANIEREN?«
    Er winkte einen der ältlichen Ritter zu sich. »Sie werden hungrig sein nach der Reise, Dagvard. Und auch durstig, möcht’ ich meinen.«
    »Ja, Euer Gnaden.«
    »Haltet den Zug an!« rief der Earl.
    Die Türen öffneten sich zischend, und Dagvard trippelte eilig auf einen Bahnsteig hinaus.
    Richard beobachtete die Menschen dort draußen. Niemand kam in ihren Wagen. Niemand schien etwas Ungewöhnliches zu bemerken.
    Dagvard ging zu einem Süßigkeitenautomaten. Er nahm den Helm ab. Dann klopfte er mit einem Kettenhandschuh seitlich an den Automaten.
    »Befehl vom Earl«, sagte er. »Schokolade.«
    Es ratschte und surrte tief in den Eingeweiden der Maschine, und sie begann, Dutzende Trauben-Nuß-Schokoriegel auszuspucken, einen nach dem anderen. Dagvard fing sie in seinem Metallhelm auf.
    Die Türen begannen sich zu schließen.

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