Niemalsland
Kew abgehalten, und ihr Vater hatte sie mitgenommen, als Geburtstagsgeschenk. Es war ihr erster Markt.
Sie befanden sich im Schmetterlingshaus, umgeben von leuchtendbunten Flügeln, irisierenden federleichten Dingern, die sie verzauberten und faszinierten, als ihr Vater sich neben sie kauerte.
»Door?« sagte er. »Dreh dich langsam um, und schau dort hinüber, zur Tür.«
Sie drehte sich um und sah hin. Ein dunkelhäutiger Mann in einem voluminösen Mantel, das schwarze Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden, stand neben der Tür und redete mit zwei goldhäutigen Zwillingen, einem jungen Mann und einer jungen Frau. Die junge Frau weinte, wie Erwachsene weinen: Sie unterdrücken es, so sehr sie können, und hassen es, wenn es sich dennoch seinen Weg bahnt und sie dabei häßlich und komisch aussehen läßt.
Door wandte sich wieder den Schmetterlingen zu.
»Hast du ihn gesehen?« fragte ihr Vater.
Sie nickte.
»Das ist der Marquis de Carabas«, sagte er. »Er ist ein Lügner und Betrüger und vielleicht sogar so etwas wie ein Ungeheuer. Wenn du je in Not bist, geh zu ihm. Er wird dich beschützen, Mädchen. Er muß.«
Und Door schaute sich noch einmal nach dem Mann um. Er hatte den Zwillingen seine Hände auf die Schultern gelegt und führte sie aus dem Raum; doch er warf einen Blick über die Schulter zurück, als er ging, und er zwinkerte ihr zu.
Die Mönche, die sie umringten, wirkten im Nebel wie dunkle Geister. Door erhob die Stimme. »Verzeihung, Bruder«, rief sie Bruder Sable zu. »Wenn unser Freund, der gegangen ist, um den Schlüssel zu holen, scheitert, was geschieht dann mit uns?«
Er trat einen Schritt auf sie zu.
»Wir begleiten Sie hier heraus, und wir lassen Sie gehen. «
»Was ist mit Richard?« fragte sie.
Sie sah, wie er unter seiner Kapuze den Kopf schüttelte, traurig, endgültig.
»Ich hätte den Marquis mitnehmen sollen«, sagte Door; und sie fragte sich, wo er war und was er gerade tat.
Der Marquis de Carabas wurde gerade auf einem großen x-förmigen Holzgebilde gekreuzigt, das Mr. Vandemar aus ein paar alten Paletten, dem Teil eines Stuhls, einem Holztor und etwas, das offenbar ein Wagenrad war, zusammengebastelt hatte. Außerdem hatte er eine große Schachtel rostiger Nägel zu Hilfe genommen. Mr. Vandemar stand auf einer Leiter und zog die ganze Vorrichtung hoch.
»Ein bißchen höher«, rief Mr. Croup, der unten auf der Erde stand. »Ein bißchen nach links. Ja. Genau. Wunderbar. «
Es war schon sehr lange her, seit sie das letzte Mal jemanden gekreuzigt hatten.
Die Arme und Beine des Marquis de Carabas waren zu einem breiten X gespreizt. Nägel steckten in seinen Händen und Füßen. Um seine Mitte war ein Seil gebunden. Er war bewußtlos.
Das ganze Gebilde baumelte, von mehreren Seilen gehalten, in der Luft, dort, wo sich früher einmal die Kantine des Krankenhauses befunden hatte.
Mr. Croup hatte am Boden einen großen Berg scharfer Gegenstände zusammengetragen: von Rasierern und Küchenmessern bis zu herrenlosen Skalpellen und Lanzetten und ein paar interessanten Sachen, die Mr. Vandemar in der ehemaligen zahnärztlichen Abteilung gefunden hatte. Es war sogar ein Schürhaken aus dem Heizraum darunter.
»Warum schauen Sie nicht mal nach, wie es ihm geht, Mister Vandemar?« fragte er.
Mr. Vandemar streckte seinen Hammer aus und hob damit das Kinn des Marquis an.
Die Lider des Marquis zitterten und öffneten sich. Er holte tief Luft und spuckte Mr. Croup einen Klumpen scharlachroten Blutes ins Gesicht.
»Wie unartig«, sagte Mr. Croup streng. In Wirklichkeit war er recht erfreut.
Wurfübungen machen viel mehr Spaß, wenn das Ziel wach ist.
Der Kessel brodelte heftig. Richard betrachtete das kochende Wasser und fragte sich, was sie wohl damit anstellen würden. Seine Fantasie hatte mit Leichtigkeit alle möglichen Antworten parat.
Keine davon war richtig.
Das kochende Wasser wurde in eine Kanne geschüttet, und Bruder Fuliginous fügte drei Löffel Teeblätter hinzu. Die sich daraus ergebende Flüssigkeit wurde aus der Kanne durch ein Teesieb in drei Porzellantassen gegossen.
Der Abt hob seinen Kopf, sog die Luft ein und lächelte. »Der erste Teil der Bewährungsprobe«, sagte er, »ist eine schöne Tasse Tee. Nimmst du Zucker?«
»Nein danke«, sagte Richard mißtrauisch.
Bruder Fuliginous goß ein wenig Milch in den Tee und reichte Richard eine Tasse mit Untertasse.
»Ist er vergiftet?« fragte Richard.
Der Abt sah beinahe beleidigt aus.
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