Niemalsland
Prüfung?« fragte er. »Prüfung?« fragte Jessica. Sie wechselte einen besorgten Blick mit dem anderen Richard-dernicht-er-war.
»Ja. Prüfung. Bei den Black Friars, die unter London leben«, sagte Richard. Während er es sagte, wurde es realer. »Es gibt da einen Schlüssel. Den muß ich für einen Engel namens Islington besorgen. Wenn ich ihm den Schlüssel besorge, schickt er mich wieder nach Haus …« Sein Mund wurde trocken, und er schwieg.
»Nun hör bloß mal«, sagte der andere Richard. »Merkst du nicht selbst, wie lächerlich das alles klingt?«
Jessica sah aus, als versuchte sie, nicht zu weinen. Ihre Augen glitzerten feucht. »Du absolvierst hier keine Prüfung, Richard. Du – du hattest eine Art Nervenzusammenbruch. Vor ein paar Wochen. Ich glaube, du bist einfach durchgedreht. Ich habe unsere Verlobung gelöst – du hast dich so merkwürdig verhalten, es war, als seist du ein anderer Mensch, das – das war zuviel für mich … Dann bist du verschwunden …« Die Tränen begannen ihr die Wangen herabzurinnen, und sie hörte auf zu reden, um sich mit einem Papiertaschentuch die Nase zu putzen.
Der andere Richard begann zu sprechen. »Allein und wahnsinnig wanderte ich durch die Straßen Londons, schlief unter Brücken, aß aus Mülltonnen und Abfallcontainern. Zitternd und verloren und allein. Murmelte vor mich hin, sprach mit Menschen, die gar nicht da waren …«
»Es tut mir so leid, Richard«, sagte Jessica. Sie weinte mit verzerrtem und wenig anziehendem Gesicht. Ihre Wimperntusche begann zu verlaufen, und ihre Nase war rot.
Er hatte sie noch nie verletzt gesehen, und ihm wurde bewußt, wie sehr er ihren Schmerz lindern wollte.
Er streckte die Hand nach ihr aus, um sie in den Arm zu nehmen, sie zu trösten, sie zu beruhigen, aber die Welt entglitt ihm und verdrehte und veränderte sich …
Jemand stolperte über ihn.
Er lag ausgestreckt auf dem Bahnsteig, im grellen Licht und Lärm der Rush-hour. Seine Wange war klebrig und kalt. Er hob den Kopf vom Boden. Er hatte in einer Pfütze seines eigenen Erbrochenen gelegen. Zumindest hoffte er, daß es sein eigenes war.
Passanten starrten ihn voll Ekel an oder vermieden es, nach einem kurzen Blick, ihn anzusehen.
Er wischte in seinem Gesicht herum, versuchte aufzustehen, doch er wußte nicht mehr, wie. Richard begann zu wimmern. Er schloß fest die Augen und ließ sie zu.
Als er sie wieder öffnete, dreißig Sekunden oder eine Stunde oder einen Tag später, lag der Bahnsteig im Halbdunkel.
Er rappelte sich auf. Es war niemand da.
»Hallo?« rief er. »Helft mir. Bitte.«
Garry saß auf der Bank und beobachtete ihn.
»Was, brauchst du immer noch jemanden, der dir sagt, was du zu tun hast?« Garry stand auf und ging dorthin, wo Richard stand. »Richard«, sagte er eindringlich. »Ich bin du. Der einzige Rat, den ich dir geben kann, besteht in dem, was du dir selber sagst. Vielleicht hast du nur zu große Angst, dir zuzuhören.«
»Du bist nicht ich«, sagte Richard, aber er glaubte es nicht mehr.
»Faß mich an«, sagte Garry.
Richard streckte die Hand aus: Sie stieß in Garrys Gesicht, zerdrückte und verzerrte es, als steckte er sie in warme Kaugummimasse. In der Luft, die seine Hand umgab, spürte Richard nichts.
Er zog die Hand wieder zurück.
»Siehst du?« sagte Garry. »Ich bin nicht hier. Du bist allein, und du gehst den Bahnsteig auf und ab, führst Selbstgespräche und versuchst, den Mut aufzubringen, zu …«
Richard hatte gar nichts sagen wollen; doch sein Mund bewegte sich, und er hörte seine Stimme sagen: »Den Mut wozu aufzubringen?«
Eine tiefe Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Die Londoner Verkehrsbetriebe bitten Sie für die Verzögerung um Verzeihung. Schuld daran ist ein Vorfall an der Haltestelle Blackfriars.«
»Dazu«, sagte Garry. »Ein Vorfall an der Haltestelle Blackfriars zu werden. Allem ein Ende zu machen. Dein Leben ist ein freudloser, leerer Schwindel ohne jede Liebe. Du hast keine Freunde – «
»Ich habe dich«, flüsterte Richard.
Garry taxierte Richard mit offenem Blick. »Für mich bist du ein Schwachkopf«, sagte er.
»Ich habe Door und Hunter und Anaesthesia.«
Garry lächelte. Mitleid lag in diesem Lächeln, und das tat Richard mehr weh als irgend etwas sonst.
»Noch mehr imaginäre Freunde? Wir haben dich im Büro alle wegen dieser Trolle ausgelacht. Weißt du noch? Auf deinem Schreibtisch.« Er lachte.
Auch Richard begann zu lachen. Es war alles zu furchtbar: Man konnte nur noch
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