Niemalsland
»Gute Güte, nein.«
Richard nippte an dem Tee, der mehr oder weniger genau wie Tee schmeckte. »Aber es gehört zur Prüfung?«
Bruder Fuliginous nahm die Hände des Abts und legte sie um eine Tasse Tee.
»In gewisser Weise. Wir servieren den Suchenden immer gern eine Tasse Tee, bevor sie beginnen. Für uns gehört das zur Prüfung. Für dich nicht.« Der Abt nippte an seinem Tee, und ein glückseliges Lächeln breitete sich auf seinem uralten Gesicht aus. »Ziemlich guter Tee, alles in allem.«
Richard setzte seine Teetasse ab. »Hätten Sie dann etwas dagegen«, fragte er, »wenn wir jetzt einfach mit der Prüfung weitermachen würden?«
»Keineswegs«, sagte der Abt. »Keineswegs.«
Er stand auf. Die drei gingen zu einer Tür am entgegengesetzten Ende des Raums.
»Gibt es … «, Richard zögerte und versuchte, sich zu entscheiden, was er fragen wollte. Dann sagte er: »Gibt es irgend etwas, das Sie mir über die Prüfung sagen können? «
Der Abt schüttelte den Kopf.
Es gab wirklich nichts zu sagen: Er pflegte den Suchenden zur Tür zu geleiten. Und dann wartete er ein oder zwei Stunden. Danach ging er wieder hinein und holte die Überreste des Suchenden aus der Kapelle und bestattete sie in der Gruft. Und manchmal war einer noch nicht tot, obwohl man das, was von ihm übrig war, auch nicht lebendig nennen konnte. Und für diese Unglücklichen sorgten die Black Friars, so gut sie eben konnten.
»Na gut«, sagte Richard. Und er lächelte. »Also dann: Macduff, voran.«
Bruder Fuliginous zog die Bolzen an der Tür zurück. Sie knallten wie zwei Schüsse. Er zog die Tür auf.
Richard trat hindurch.
Bruder Fuliginous stieß die Tür hinter ihm zu und verriegelte sie wieder.
Er geleitete den Abt zu seinem Stuhl zurück und gab dem alten Mann die Teetasse wieder in die Hand. Der Abt nippte schweigend an seinem Tee. Und dann sagte er: »Eigentlich heißt es ›Macduff, stoß zu‹. Aber ich hab’ es nicht übers Herz gebracht, ihn zu verbessern. Er klang wie ein sehr netter junger Mann.«
Kapitel Zwölf
Richard Mayhew ging den U-Bahnsteig entlang.
Die Haltestelle erkannte er nicht. Es war eine Station der District Line: Auf dem Schild stand BLACKFRIARS.
Der Bahnsteig war leer. Irgendwo röhrte ein U-Bahnzug und blies einen Geisterwind herüber, der ein Exemplar der Sun in einzelne Seiten zerlegte und Brüste und Beleidigungen über den Bahnsteig huschen und auf die Gleise taumeln ließ.
Richard schaute von links nach rechts.
Dann setzte er sich auf eine Bank und wartete darauf, daß etwas geschah.
Nichts geschah.
Er rieb sich den Kopf, und ihm war etwas übel.
Auf dem Bahnsteig erklangen Schritte. Er blickte auf: Ein affektiert wirkendes Kind ging an ihm vorbei, Hand in Hand mit einer Frau, die aussah wie eine größere, ältere Ausgabe des Kindes. Sie sahen ihn an, und dann schauten sie ziemlich offensichtlich weg.
»Geh nicht zu dicht an ihn ran, Melanie«, mahnte die Mutter in einem äußerst hörbaren Flüsterton.
Melanie starrte Richard an, wie Kinder einen anstarren, ohne Verlegenheit oder Hemmungen. Dann sah sie wieder ihre Mutter an. »Warum leben solche Menschen weiter? « fragte sie neugierig.
»Zu feige, um allem ein Ende zu machen«, erklärte ihre Mutter.
Melanie riskierte noch einen Blick. »Jämmerlich«, sagte sie. Ihre Füße klackten den Bahnsteig entlang davon, und bald waren sie fort.
Er fragte sich, ob er sich das eingebildet hatte. Er versuchte sich zu erinnern, warum er sich auf diesem Bahnsteig befand. Wartete er auf eine U-Bahn? Wo wollte er hin?
Er wußte es nicht.
Er saß da. Träumte er? Er betastete mit den Händen den harten Plastiksitz unter sich, stampfte mit schlammverkrusteten Schuhen auf den Bahnsteig (woher kam der Schlamm?), berührte sein Gesicht … Nein. Das war kein Traum. Wo er auch war, es war Wirklichkeit.
Er fühlte sich seltsam: losgelöst und deprimiert und entsetzlich, merkwürdig traurig.
Jemand setzte sich neben ihn. Richard blickte nicht auf, wandte nicht den Kopf.
»Hallo«, sagte eine vertraute Stimme. »Wie geht’s dir, Dick? Alles in Ordnung?«
Richard sah auf. Er spürte, wie sein Gesicht sich zu einem Lächeln verzog, wie die Hoffnung ihn wie ein Faustschlag vor die Brust traf. »Garry?« fragte er ängstlich. Dann: »Du kannst mich sehen?«
Garry grinste. »Du warst schon immer ein Witzbold«, sagte er. »Echt ’n lustiger Typ.«
Garry trug Anzug und Krawatte. Er war sauber rasiert, und jedes Haar lag an seinem Platz.
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