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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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war, und ihr Stock traf ihn heftig und präzise in die Kniekehlen, und seine Beine gaben nach.
    »Genug!« rief eine Stimme von der Brücke.
    Hunter trat einen Schritt zurück. Sie stand neben Richard und Door.
    Der große Mönch erhob sich aus dem Schlamm. Seine Lippe blutete. Er verneigte sich tief vor Hunter und ging dann zum Fuß der Brücke.
    »Wer ist das, Bruder Sable?« rief die Stimme.
    »Lady Door, Lord Porticos Tochter vom Hause Arch; Hunter, ihre Leibwächterin, und Richard Mayhew Naß, ihr Begleiter«, sagte Bruder Sable durch seine aufgesprungenen Lippen. »Sie hat mich in einem fairen Kampf besiegt, Bruder Fuliginous.«
    »Laß sie heraufkommen«, sagte die Stimme.
    Hunter ging voran zur Brücke. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke wartete ein weiterer Mönch auf sie: Bruder Fuliginous. Er war jünger und kleiner als der erste Mönch, den sie getroffen hatten, aber genauso gekleidet. Seine Haut war von einem tiefen, satten Braun.
    Weitere schwarzgekleidete Gestalten standen kaum sichtbar im gelben Nebel. Weitere Black Friars, vermutete Richard.
    Der zweite Mönch starrte die drei einen Moment lang an und sagte dann:
    »Wenn ich den Kopf drehe, ist der Weg frei.
    Dreh’ ich ihn wieder, kommt keiner vorbei.
    Ein Gesicht hab’ ich nicht, doch Zähne durchaus.
    Also – wer bin ich? Wer findet’s heraus?«
    Door trat einen Schritt vor. Sie leckte sich die Lippen und schloß halb die Augen. »Wenn ich den Kopf drehe …«, sprach sie grübelnd vor sich hin. »Zähne durchaus … ist der Weg frei …« Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie blickte zu Bruder Fuliginous empor. »Ein Schlüssel«, sagte sie. »Die Antwort heißt: ein Schlüssel.«
    »Sehr schlau«, sagte Bruder Fuliginous. »Damit seid ihr schon zwei Schritte weiter. Einer fehlt noch.«
    Ein sehr alter Mann trat aus dem gelben Nebel und ging vorsichtig auf sie zu, wobei er sich mit seiner schwieligen Hand an der steinernen Brücke festhielt. Er blieb stehen, als er bei Bruder Fuliginous angekommen war. Seine Augen waren milchigweiß, vom grauen Star getrübt. Richard mochte ihn vom ersten Augenblick an.
    »Wie viele sind es?« fragte er den jüngeren Mann mit tiefer und beruhigender Stimme.
    »Drei, Vater Abt.«
    »Und hat einer davon den ersten Pförtner besiegt?«
    »Ja, Vater Abt.«
    »Und hat einer davon dem zweiten Pförtner richtig geantwortet? «
    »Ja, Vater Abt.«
    »Also steht noch einem von ihnen die Bewährungsprobe bevor. Er oder sie soll jetzt vortreten.«
    Door sagte: »Oh, nein.«
    Hunter sagte: »Lassen Sie mich an seiner Stelle gehen. Ich werde die Bewährungsprobe machen.«
    Bruder Fuliginous schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht erlauben.«
    Als Richard ein kleiner Junge war, hatte er mal auf einem Schulausflug ein Schloß in der Nähe seines Heimatortes besucht. Er war mit seiner Klasse die vielen Stufen bis zum höchsten Punkt des Schlosses hinaufgestiegen, einem teilweise verfallenen Turm. Während sie dort oben standen, erklärte ihnen der Lehrer die Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete.
    Selbst in jenem Alter hatte Richard bereits Höhenangst gehabt. Er hatte sich an das Sicherheitsgeländer geklammert, die Augen zusammengekniffen und versucht, nicht hinunterzusehen.
    Der Lehrer hatte ihnen erzählt, daß man von der Spitze des Turms bis zum Fuß des Berges, über dem er aufragte, hundert Meter tief stürzte. Und er hatte ihnen erklärt, daß ein Groschen, den man von der Turmspitze hinunterwarf, am Fuß des Berges genug Kraft hätte, um den Schädel eines Mannes zu durchschlagen.
    In jener Nacht lag Richard im Bett und stellte sich den Groschen vor, wie er mit der Kraft einer Pistolenkugel oder eines Donnerkeils hinunterfiel. Er sah immer noch aus wie ein Groschen, doch im Fallen wurde er zur Mordwaffe …
    Eine Bewährungsprobe.
    Bei Richard fiel der Groschen. Ein spezieller Groschen.
    »Moment mal«, sagte er. »Noch mal ganz von vorn. Hm-mm: Bewährungsprobe. Da steht jemandem eine Bewährungsprobe bevor. Jemandem, der sich nicht im Schlamm herumgeprügelt hat und der es nicht geschafft hat, das ›Mein-erster-Buchstabe-findet-sich-in-Robert,aber-nicht-in-Bett‹-Rätsel zu lösen …«
    Er faselte Unsinn. Er hörte sich faseln, und es war ihm völlig egal.
    »Diese Bewährungsprobe«, fragte er den Abt, »wie schwer ist die? Etwa so wie ein Besuch bei einer ziemlich übellaunigen älteren Verwandten oder eher so, als würde man die Hand in siedendes Wasser tauchen, um zu sehen,

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