Niemalsland
eine lange Wand geheftet, doch er wußte nicht mehr, wo oder wann.
Der Waggon roch, wie eine Leichenhalle am Ende eines langen, heißen Sommers riechen mochte, in dessen Verlauf das Kühlsystem den Geist aufgegeben hatte.
Richard hatte keine Ahnung mehr, wer er war; keine Ahnung, was wahr war und was nicht; ob er mutig war oder feige, verrückt oder nicht.
Aber er wußte, was er als nächstes tun mußte. Er stieg in den Zug.
Und alle Lichter gingen aus.
Die Bolzen wurden zurückgezogen. Es knallte zweimal laut. Die Tür zu der winzigen Kapelle wurde aufgestoßen, und Lampenlicht strömte aus dem Flur herein.
Es war ein kleiner Raum mit einer hohen gewölbten Decke. Ein silberner Schlüssel hing an einem Faden vom Scheitelpunkt der Decke herab. Der Wind, den das Öffnen der Tür erzeugt hatte, ließ den Schlüssel vor und zurück schwingen und sich dann langsam drehen, erst in die eine Richtung und dann in die andere.
Der Abt hielt Bruder Fuliginous’ Arm, und die beiden Männer gingen Seite an Seite in die Kapelle. Dann ließ der Abt den Arm des Mönchs los und sagte: »Hol die Leiche, Bruder Fuliginous.«
»Aber. Aber Vater …«
»Was ist?«
Bruder Fuliginous ließ sich auf ein Knie nieder. Der Abt hörte Finger über Stoff und Haut streichen. »Er ist nicht tot.«
Der Abt seufzte. Es war schlimm, so etwas zu denken, das wußte er, aber er war ehrlich der Meinung, es sei viel gnädiger, wenn sie gleich starben. Dies war sehr viel schlimmer. »Wieder so einer, hm?« sagte er. »Nun ja, wir kümmern uns um die arme Kreatur, bis sie endlich vollends erlöst wird. Bring ihn ins Krankenzimmer.«
Und eine schwache Stimme sagte sehr leise: »Ich bin keine … arme Kreatur …«
Der Abt hörte, wie jemand aufstand; hörte, wie Bruder Fuliginous scharf Luft holte.
»Ich … ich glaube, ich hab’s geschafft«, sagte Richard Mayhews Stimme unsicher. »Vorausgesetzt, die Bewährungsprobe geht nicht noch weiter.«
»Nein, mein Sohn«, sagte der Abt.
Stille. »Ich … ich würde jetzt gern meine Tasse Tee trinken, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Richard.
»Aber gewiß«, sagte der Abt. »Hier entlang.«
Richard starrte den alten Mann an. Der Abt zitterte. Die weißlichblauen Augen starrten ins Nichts. Er schien sich zu freuen, daß Richard am Leben war, aber …
»Verzeihung, Sir?« sagte Bruder Fuliginous respektvoll zu Richard. »Vergessen Sie Ihren Schlüssel nicht.«
»Oh. Ja. Danke.«
Den hatte er völlig vergessen. Er streckte die Hand aus und schloß sie um den silbernen Schlüssel, der sich langsam an seinem Band drehte. Er zog, und das Band riß mit Leichtigkeit.
Richard öffnete die Faust, und der Schlüssel starrte ihn aus seiner Handfläche an.
»… doch Zähne durchaus«, erinnerte sich Richard. »Wer bin ich?«
Er steckte ihn in die Tasche, zu der kleinen Quarzperle, und gemeinsam verließen sie diesen Ort.
Der Nebel wurde langsam dünner. Hunter war zufrieden. Sie war jetzt sicher, daß sie Lady Door, wenn es nötig sein sollte, unverletzt vor den Mönchen retten könnte und selbst mit nur geringen Fleischwunden davonkommen würde.
Auf der anderen Seite der Brücke war ein Flirren zu sehen.
»Da ist irgendwas los«, sagte Hunter halblaut. »Machen Sie sich zum Losrennen bereit.«
Die Mönche zogen sich zurück.
Richard, der Oberweltler, kam an der Seite des Abts durch den Nebel. Richard wirkte … Hunter musterte ihn prüfend, um herauszufinden, was sich verändert hatte. Sein Gleichgewichtszentrum hatte sich nach unten verlagert, war mehr in den Mittelpunkt gerückt. Nein … es war mehr als das.
Er wirkte …
Er wirkte, als sei er erwachsener geworden. »Noch am Leben?« sagte Hunter.
Er nickte, steckte die Hand in die Tasche und zog einen silbernen Schlüssel hervor. Er warf ihn Door zu, die ihn fing und dann Richard um den Hals fiel und ihn so fest drückte, wie sie konnte.
Dann ließ sie ihn wieder los und lief zum Abt. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel das für uns bedeutet«, sagte sie zu ihm.
Er lächelte, schwach, aber würdevoll. »Mögen der Temple und der Arch mit euch allen sein, auf eurer Reise durch die Unterseite«, sagte er.
Door knickste, und dann ging sie, den Schlüssel fest umklammernd, zurück zu Richard und zu Hunter.
Die drei Reisenden schritten die Brücke hinab.
Die Mönche standen auf der Brücke, bis sie außer Sichtweite waren, verloren in dem alten Nebel der Welt unter der Welt. »Der Schlüssel ist nicht mehr unser«, sagte der
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