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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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machte.
    Er lachte leise.
    »Was ist so lustig?« fragte Door.
    Er grinste. »Ich dachte nur gerade daran, was der Marquis wohl für ein Gesicht machen wird, wenn wir ihm erzählen, daß wir den Schlüssel ohne seine Hilfe von den Mönchen bekommen haben.«
    »Ich bin sicher, ihm fällt dazu irgendein sardonischer Spruch ein«, erwiderte sie. »Und dann geht’s zurück zum Engel. Auf dem ›langen und gefährlichen Weg‹. Was immer das ist.«
    Richard war kurz davor, zu sagen: »Ich bin sicher, es ist lang und es ist gefährlich«, doch er schluckte es wieder hinunter. Statt dessen bewunderte er die Höhlenmalereien an den Wänden. In Rostbraun- und Ocker- und Sienatönen waren angreifende Eber und flüchtende Gazellen dargestellt, wollige Mastodone und riesige Faultiere: Er war der Meinung, die Gemälde müßten schon Tausende von Jahren alt sein, doch dann bogen sie um eine Ecke, und dort stieß er auf im gleichen Stil gemalte Lastwagen, Hauskatzen, Autos und – merklich schlechter ausgeführt als die anderen Motive, als hätte der Künstler sie nur selten und aus weiter Entfernung gesehen – Flugzeuge.
    Keines der Gemälde war sehr weit vom Boden entfernt. Er fragte sich, ob die Maler zu einer Rasse unterirdischer Neandertaler-Pygmäen gehörten. Das war immerhin ebenso wahrscheinlich wie alles andere in dieser seltsamen Welt.
    »Und wo ist der nächste Markt?« fragte er.
    »Keine Ahnung«, antwortete Door. »Hunter?«
    Hunter glitt aus dem Schatten hervor. »Ich weiß es nicht.«
    Eine kleine Gestalt schoß an ihnen vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kurze Zeit später kamen zwei weitere winzige Gestalten in einem mörderischen Tempo auf sie zu.
    Hunter ließ eine Hand vorschnellen, als sie vorbeiliefen und erwischte einen kleinen Jungen am Ohr.
    »Au!« sagte er, wie kleine Jungs es tun. »Laß los! Sie hat meinen Pinsel geklaut!«
    »Stimmt«, sagte eine piepsige Stimme ein Stück den Gang hinunter. »Das hat sie.«
    »Hab’ ich nicht«, ertönte eine noch höhere und piepsigere Stimme noch weiter den Gang hinunter.
    Hunter deutete auf die Gemälde an der Höhlenwand. »Habt ihr die gemacht?« fragte sie.
    Der Kleine trug die maßlose Überheblichkeit zu Schau, die man nur bei den allergrößten Künstlern und allen neunjährigen Jungen findet. »Ja«, sagte er trotzig. »Ein paar davon.«
    »Nicht schlecht«, sagte Hunter.
    Der Junge funkelte sie wütend an.
    »Wo ist der nächste Wandermarkt?« fragte Door.
    »Belfast«, sagte der Junge. »Heute nacht.«
    »Danke«, sagte Door. »Ich hoffe, du kriegst deinen Pinsel wieder. Lassen Sie ihn los, Hunter.«
    Hunter ließ das Ohr des Jungen los.
    Er rührte sich nicht. Er musterte sie von oben bis unten, dann zog er ein Gesicht, um auszudrücken, daß er vollkommen unbeeindruckt war. »Sie sind Hunter?« fragte er.
    Sie lächelte bescheiden zu ihm herab. Er schniefte. »Sie sind die beste Leibwächterin der Unterseite?«
    »So sagt man.«
    Die Hand des Jungen schoß nach hinten und dann wieder vor, in einer einzigen fließenden Bewegung. Verdutzt hielt er inne und öffnete die Faust, untersuchte seine Handfläche. Dann schaute er verwirrt zu Hunter empor.
    Hunter hatte ein kleines Schnappmesser mit einer gefährlichen Klinge in der Hand. Sie hielt es so hoch, daß der Junge es nicht erreichen konnte.
    Er rümpfte die Nase. »Wie haben Sie das gemacht?« »Verdufte«, sagte Hunter.
    Sie klappte das Messer zusammen und warf es dem Jungen zu, der ohne sich noch einmal umzuschauen den Gang hinunterlief, auf der Jagd nach seinem Pinsel.
    Der Körper des Marquis de Carabas trieb mit dem Gesicht nach unten das tiefe Siel entlang gen Osten.
    Die Abwasserkanäle Londons haben ihr Leben als Flüsse und Bäche begonnen, die vom Norden bis zum Süden in die Themse strömten. Dieses System hatte viele Jahre lang einigermaßen funktioniert, bis 1858 die Abwassermenge, die die Menschen und Betriebe Londons produzierten, in Verbindung mit einem ziemlich heißen Sommer ein Phänomen hervorbrachte, das damals der Große Gestank genannt wurde. Die Menschen, die London verlassen konnten, taten dies; diejenigen, die blieben, wickelten sich mit Karbol getränkte Lappen ums Gesicht und versuchten, nicht durch die Nase zu atmen.
    Das Parlament war Anfang 1858 gezwungen, seine Arbeit einzustellen, und im folgenden Jahr verordnete es ein Programm zum Bau einer Kanalisation. Die Abwasserkanäle, insgesamt Tausende von Kilometern lang, wurden mit einer sanften Neigung

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