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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Kombination aus den Chromosomen seiner Eltern, die sich miteinander verbündet hatten, um ihm sein auffälligstes Merkmal zu schenken. Den Großteil meines Erwachsenenlebens hatte ich
geglaubt, was meine Biologielehrerin Miss Wood uns erzählt hatte: dass eines Tages solche Augen verschwunden sein würden, eine ferne Erinnerung an eine verblühte Zivilisation. Blaue Augen seien das Ergebnis rezessiver Gene, daher würden sie irgendwann nicht mehr vorkommen. Eines Tages wäre die Welt nur noch von braunäugigen Menschen bevölkert, das dominante Gen würde sich durchsetzen, den Planeten erobern. Es sei das Verhängnis der Mittelmäßigkeit, sagte sie, dass die dominanten Gene die rezessiven bekämpften, bis eines Tages jeder Mensch gleich aussähe.
    Ich hatte Miss Woods Argumentation nie infrage gestellt, hatte sie einfach hingenommen, wie so viele andere falsche Dinge, die ich auf der Schule lernte. Und so schaute ich Henry jahrelang immer mit ein wenig Melancholie in die Augen, überzeugt, dass unsere Kinder keine Chance hätten, jemals seine Augenfarbe zu erben. Sie waren wie das wunderschöne sanfte Licht eines Sterns, der schon vor vielen Jahren erloschen war.
    Erst vor Kurzem hatte ich herausgefunden, dass Miss Wood einen der elementarsten und wichtigsten Grundsätze der Biologie missverstanden hatte. Es war McConnell, der es mir während des Gesprächs in seinem Haus in Diriomo ein paar Wochen vorher erklärte. »Sie sehen ihr so ähnlich«, hatte er gesagt. »Abgesehen von den roten Haaren natürlich.« Woraufhin ich etwas in der Art entgegnet hatte, dass in einhundert Jahren rote Haare ausgestorben wären.
    »Das stimmt nicht«, sagte McConnell. Und dann hatte er mir die Geschichte des Biologen Reginald Punnett erzählt, der davon überzeugt war, dass rezessive Gene in der menschlichen Bevölkerung auf beständigem Niveau weiter auftreten würden, auf unbegrenzte Zeit. Da er nicht wusste, wie er seine Theorie beweisen sollte, wandte er sich an seinen Freund
G. H. Hardy. Laut Punnett überlegte Hardy einige Minuten lang und schrieb dann rasch eine schlichte, elegante Gleichung auf, die Punnetts Theorie zweifelsfrei bewies. Punnett war verblüfft. Sofort machte er Hardy den Vorschlag, seine Arbeit zur Veröffentlichung einzureichen. Hardy zögerte anfangs, da er glaubte, dass ein solches Problem doch längst gelöst sein müsse und es ihm als Mathematiker nicht zustehe, eine Arbeit in einem ihm so völlig fremden Fachbereich einzubringen.
    »Letzten Endes«, hatte McConnell erzählt, »gab Hardy nach und reichte die Arbeit ein, die heute als Hardy-Weinberg-Gleichgewicht bekannt ist und in allen namhafteren Schulen und Universitäten auf der Welt gelehrt wird. Blaue Augen, rote Haare - das wird es geben, solange es Menschen gibt. Für die Biologie war das ein Riesenschritt, aber in seiner berühmten Schrift A Mathematician’s Apology erwähnte Hardy es nicht einmal.«
    Nun sah ich Henry zum ersten Mal in die Augen, ohne diese alte Melancholie zu spüren. In hundert Jahren würden Henrys Urenkel sich vielleicht Fotos von ihm ansehen und genau nachvollziehen können, woher sie ihre wunderschönen blauen Augen hatten.
    »Warum lächelst du?«, fragte Henry.
    »Nur so.«
    Wieder saßen wir eine Weile still da. Mir fiel ein, was Don Carroll zu mir gesagt hatte: »Ein perfekter Partner ist beinahe so selten wie eine vollkommene Zahl.«
    »Neulich im Büro«, sagte ich dann, »da wolltest du mir etwas erzählen, als Mike dazukam. Weißt du noch? Ich hatte dich gefragt, ob du bei unserer ersten Begegnung schon wusstest, was uns am Ende auseinanderbringen würde.«
    Er beugte sich über den Tisch und umschloss meine Hände
mit seinen. In seiner Stimme lag kein Zögern, und ich fragte mich, ob er die ganze Zeit darauf gewartet hatte, mir eine Antwort geben zu können. »Als Kind hatte ich immer einen Traum, in dem mein Vater mir endlich das Fahrrad kaufte, das ich mir so sehnlichst wünschte, eins von diesen Schwinn-Choppern mit Fünfgangschaltung. Es war dunkelgrün und hieß ›Pea Picker‹. Jedenfalls - immer wenn ich im Traum nach dem Fahrrad greifen wollte, rollte es weg. Ich konnte es nie einfangen. In Guatemala fiel mir auf, dass du wie dieses Fahrrad warst. Du warst zwar bei mir, aber gleichzeitig bliebst du immer unerreichbar.«
    »Dann bin ich also der Pea Picker?«
    »Na ja …«
    Mehr Lärm von der Straße, mehr Knallfrösche, aber dieses Mal wandte keiner von uns den Kopf.
    »Kennst du die Geschichte vom

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