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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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sicher, ›ein ungewöhnliches, aber durch und durch elegantes drittes Element‹ .
    »Aber was bedeutet das?«
    »Verstehst du nicht? Es war ein Rätsel. Ich bin sicher, sie hatte vorgehabt, es bald aufzulösen, wenn ich nicht selbst darauf kommen würde, aber dazu blieb ihr keine Gelegenheit mehr. In der Nacht, als ich durchweicht und angetrunken von deinem Hotel nach Hause kam, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und legte ein Diagramm des Brunschen Siebs nach rechts, eine Formulierung des Satzes von Winogradow nach links, und in die Mitte platzierte ich meine zerlesene geerbte Ausgabe von Euklids Elementen - ›ein ungewöhnliches, aber durch und durch elegantes drittes Element‹ hatte
sie gesagt. Ein Hinweis. Er war die ganze Zeit da gewesen, ich hätte nur besser aufpassen müssen. Die Elemente besteht aus dreizehn Büchern, und um auf keinen Fall etwas zu übersehen, fing ich mit Buch eins, Zeile eins an. Ich analysierte Seite für Seite und unterbrach nur, um mir etwas zu essen zu machen, Wasser vom Brunnen zu holen oder mich ein paar Stunden aufs Ohr zu legen. Das machte ich dreiundvierzig Tage am Stück. Ich verbrauchte mehrere Pakete Bleistifte, stapelweise Papier. Am Ende fand ich an einer Stelle, an der ich niemals auf die Idee gekommen wäre, nachzusehen, den Schlüssel, auf den Lila hingewiesen hatte, den Schlüssel zur Lösung der ganzen Sache.«
    Die Sonne schien durch die nassen Äste der Bäume und ließ alles in einem absonderlichen Licht schimmern. Große Wassertropfen sammelten sich an McConnells Haarspitzen und perlten ihm aufs Gesicht, auf den Hemdkragen. Er sah manisch und genial aus, und ich wusste genau, ohne jeden Zweifel oder Vorbehalt, warum Lila, die doch geschworen hatte, ihre Zeit niemals mit Liebe zu verschwenden, sich in ihn verliebt hatte.
    »Was wirst du damit tun?«, fragte ich.
    »Ich gebe ihn dir. Du kannst entscheiden. Für mich ist es nicht mehr wichtig. Ich habe es nur für Lila getan.«
    »Das kann nicht dein Ernst sein.«
    Er sah mich an, als hätte ich nicht begriffen, worum es ging, als hätte ich kein Wort von dem verstanden, was er gerade zu mir gesagt hatte. »Ist es aber. Eine ungeheure Last wurde von mir genommen. Ich habe das Größte getan, was ich mir je hätte träumen lassen, und ich habe es genau so gemacht, wie ich es vor zwanzig Jahren vorhatte - in Zusammenarbeit mit Lila.«
    Später in meinem Hotelzimmer hatte ich die Seiten stundenlang
angestarrt, hatte versucht, wenigstens ein paar Zeilen der dichten, undurchdringlichen Masse an Zahlen und Symbolen zu begreifen. Aber es war aussichtslos. Es war Lilas Sprache, nicht meine.
    Ich hatte für mich selbst eine Kopie gemacht - ein unangebrachter archivarischer Instinkt, ein Wunsch danach, es schwarz auf weiß zu haben, selbst wenn ich es nie auch nur ansatzweise verstehen würde - und das Original Don Carroll gebracht, der es mit Verwunderung entgegennahm. Er werde es veröffentlichen, versprach er, als Gemeinschaftsarbeit, unter dem Namen McConnells und meiner Schwester. Er werde ein bisschen lavieren müssen, den ein oder anderen Gefallen einfordern, immerhin sei McConnell zwanzig Jahre lang von der Bildfläche verschwunden gewesen, und seine Behauptung, eines der schwierigsten Probleme der Mathematikgeschichte gelöst zu haben, werde sicher auf heftige Skepsis stoßen; aber es könne gelingen. Eine Begutachtung durch Fachkollegen würde stattfinden. Und sollte sich der Beweis als korrekt herausstellen - worauf Carroll vertraute -, dann würde die Welt Notiz davon nehmen. Wieder einmal, so wurde mir bewusst, würde meine Schwester berühmt werden. Aber dieses Mal durch ihre Begabung, durch ihren Verstand. Nicht durch etwas, das man ihr angetan hatte, sondern durch etwas, das sie selbst getan hatte.
    Jetzt betrachtete ich das Bild von Lila mit ihrem Notizbuch am Esstisch ein letztes Mal. Dann legte ich es auf den Altar. Lila in Hochform, in einem Moment der Erkenntnis.
    Ich bahnte mir einen Weg durch den überfüllten Park auf die inzwischen stockdunkle Straße. Dort empfing mich wieder das Gedränge von Leibern. Dutzende, Hunderte, ein Fluss der Toten, der durch die Stadt strömte, sich langsam durch die Seitengassen in die einzelnen Viertel ausbreitete. Ich suchte
einen Weg hinaus, aber es schien keinen Ausgang zu geben. Jedes bemalte Gesicht führte zu einem weiteren und noch einem, sodass ich das Gefühl hatte, immer tiefer in die Menge einzutauchen.
    Wie viele Minuten vergangen waren - fünf, zehn,

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