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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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hielten sich zwei ältere Frauen an der Hand, sie sprachen Spanisch.
    So lange hatte ich ein einsames Leben geführt, hatte meine Erinnerungen an Lila wie einen geheimen Schatz gehütet, den zu verlieren ich mir nicht leisten konnte, hatte sie Tag für Tag ganz allein durchstöbert - als wäre der Tod meiner Schwester etwas, was niemand sonst verstehen könnte. Jetzt entdeckte ich, wohin ich auch sah, die Gesichter der Toten.
    In meiner Jackentasche steckte das Foto von Lila, das ich ungefähr einen Monat vor ihrem Tod gemacht hatte. Darauf sitzt sie am Esstisch, den Kopf leicht über das altvertraute Notizbuch gebeugt, den Stift auf die Seite gedrückt. Der Perspektive der Aufnahme nach muss ich vom gegenüberliegenden Tischende aus fotografiert haben, nur ein oder zwei Meter von ihr entfernt. Sie schaut nicht in die Kamera, sondern in das Heft, als wäre ihr überhaupt nicht bewusst, dass außer ihr noch jemand im Zimmer ist. Ihr dunkles Haar ist auf ihrem Kopf aufgetürmt und mit einer Hornspange befestigt, und auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck reiner Konzentration. Doch wenn man ihren Mund genau betrachtet, ihre Augen, dann wird in ihrer Miene noch etwas anderes deutlich. Es ist reine Freude, als hätte sie gerade eine wichtige Erkenntnis gewonnen.
    Jahrelang hatte ich das Bild in einer Schachtel aufbewahrt, vor lauter Angst, ich könnte es zerknicken oder verlieren. Jetzt vor dem Gemeinschaftsaltar zog ich es aus der Jackentasche und hielt es ins Kerzenlicht. Ich dachte an Peter McConnell und dass er nie ein Foto von Lila gebraucht hatte, um seine Zuneigung zu ihr am Leben zu erhalten. Er hatte das Notizbuch gehabt und seine Erinnerungen an sie, und für ihn war das genug gewesen.

    »Was ist das?«, hatte ich ein paar Tage zuvor auf einer Steinplatte in McConnells aufgeweichtem Vorgarten stehend gefragt, den dicken Umschlag in der Hand.
    »Das ist der Beweis.«
    »Der Beweis?«
    Er nickte. Ein paar Sekunden lang starrte ich ihn nur verständnislos an. Dann begriff ich. » Der Beweis?«, fragte ich ungläubig.
    » Der Beweis.«
    »Für die Goldbachsche Vermutung?«
    »Ja.« An seinem Gesichtsausdruck sah ich, dass er beinahe genauso erstaunt war wie ich.
    »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, du hättest aufgegeben.«
    »Hatte ich auch. Und dann traf ich dich, redete mit dir, und alles wurde auf den Kopf gestellt. Meine Erinnerungen an das letzte Gespräch mit Lila an dem Abend im Restaurant strömten zurück. Mir fiel etwas ein, was sie sagte, bevor ich die Unterhaltung auf persönliche Themen lenkte, etwas über eine Kombination der Brunschen Siebmethode, des Satzes von Winogradow und dessen, was sie als einen ›ungewöhnlichen, aber durch und durch eleganten dritten Teil‹ bezeichnete. Damals dachte ich mir nicht viel dabei. Wir hatten bei unserer Suche nach dem Goldbach-Beweis schon so viele Pfade beschritten, und ich ging davon aus, dass wir noch viele, viele weitere beschreiten würden. Ich nahm es als selbstverständlich, dass der Schlüssel, nach dem wir forschten, durch die schiere Komplexität des Problems noch Jahre, möglicherweise Jahrzehnte in der Zukunft lag. Einige Monate nachdem ich Anfang der Neunzigerjahre hierhergezogen war, überwand ich mich schließlich dazu, ihr Notizbuch aufzuschlagen und nach dem ›ungewöhnlichen, aber durch und durch eleganten dritten Teil‹ zu suchen, den sie erwähnt hatte. Ich
nahm das ganze Heft genauestens unter die Lupe und probierte im Laufe der Zeit Tausende unterschiedliche Variationen aus, aber nichts funktionierte. Trotzdem machte ich weiter, und wie du schon von Carroll erfahren hast, kam ich dabei zu einer Reihe interessanter Ergebnisse. Aber nie hatte ich das Gefühl, mich dem endgültigen Beweis der Goldbachschen Vermutung dadurch auch nur zu nähern.
    Dann traf ich dich. Dieser Abend mit dir in deinem Hotelzimmer war beinahe unwirklich. Das Zusammenspiel von Alkohol, Dunkelheit und der durch und durch eigenartigen Situation hatte eine fast halluzinatorische Wirkung auf mich. Auf meinem langen Heimweg durch den Regen in jener Nacht erschuf ich Lilas Stimme in meinem Kopf wieder neu. Ich hörte sie sogar. Und mir wurde bewusst, dass ich ihn die ganze Zeit falsch im Gedächtnis gehabt hatte. Sie hatte damals gelächelt, als sie es sagte, ihr stilles, verschmitztes Lächeln. Aber ihre genauen Worte waren nicht ›ein ungewöhnlicher, aber durch und durch eleganter dritter Teil‹. Es war lyrischer als das. Sie hatte gesagt, dessen war ich mir nun

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