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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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fünfzehn? -, bis ich mich endlich wieder aus dem Gewühl, das mich mit sich gerissen hatte, befreien konnte, weiß ich nicht. Ich atmete tief ein, füllte meine Lungen mit der kühlen Nachtluft, versuchte mich zu orientieren. Dann lief ich so lange, bis der Klang der Trommeln weit entfernt war, und fand mich allein in einer mir unbekannten Gegend wieder. Es gab keine Schilder, keine markanten Gebäude, keine Bezugspunkte. Die Straße war eigentlich nicht mehr als ein schmaler Weg, von Bäumen und einer Reihe alter viktorianischer Häuser gesäumt, jedes davon auf seine eigene Weise von einer Form anmutigen Verfalls gekennzeichnet. Eine Katze miaute. In einer Wohnung im ersten Stock lief ein Mädchen in einem gelben Nachthemd langsam am Fenster vorbei. Eine große Gestalt bewegte sich auf sie zu. Ein schlanker Arm knipste eine Lampe aus, und der Raum wurde dunkel. Alles an diesem Moment war mir verblüffend vertraut. War ich schon einmal hier gewesen?
    Am Ende der Straße wandte ich mich instinktiv nach rechts. Die viktorianischen Häuschen wichen Wohnblocks und mexikanischen Restaurants, Bars und Hamburgerbuden. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich auf die Dolores Street stieß. Links und den Hügel hinauf, vorbei an einem kleinen Park, in dem sich der Müll des Abends sammelte - leere Flaschen, ein weggeworfenes rotes Cape, eine Girlande aus Papierskeletten, die von einem Laternenpfahl hing und sich in der Brise hob und senkte. Meine Beine taten mir weh, aber ich lief weiter. Erst an der Twenty-eighth Street wurde
mir bewusst, was die ganze Zeit mein Ziel gewesen war. Als ich den Weg den steilen Berg hinauf antrat, hatte ich das Gefühl, seit Stunden unterwegs zu sein. Es war still in meiner alten Straße. Obwohl das Herz des Mission District nur einen guten Kilometer entfernt lag, schien es hier eine ganz andere Stadt zu sein. Auf halber Höhe blieb ich neben dem Zylinderputzerbaum stehen, wandte mich zur Seite und blickte nach oben. In meinem alten Zimmer brannte Licht. Das Vogelhäuschen an der Fensterbank warf einen seltsamen Schatten auf den Bürgersteig. Ich sah auf die Uhr - halb eins. Also setzte ich mich auf die unterste Stufe vor der Haustür und wartete. Der Wind frischte auf und trug die Düfte des Gartens meiner Mutter heran - Pfefferminze, Lavendel, Salbei.
    Um 0:43 stand ich wieder auf und drehte mich mit dem Gesicht zum Haus, den Blick auf mein altes Fenster gerichtet. Um 0:45, genau wie Thorpe gesagt hatte, gingen die Jalousien herunter und das Licht aus. Ich wandte mich Richtung Diamond Heights um. Dort oben stand Thorpes großes Haus, ragte über den Abhang wie ein Raumschiff, die moderne Silhouette merkwürdig im Einklang mit dem Hügel und den Bäumen. Jetzt . Ich weiß nicht, ob ich das Wort laut aussprach oder es nur dachte, aber genau da ging das Licht in Thorpes Büro an.
    Ich stellte mir vor, wie die Frau in meinem alten Zimmer ins Bett ging. Schlief sie ein, sobald ihr Kopf das Kissen berührte, oder lag sie noch wach und schmiedete Pläne, grübelte über die Ereignisse des Tages nach? Wie viel wusste sie über die Familie, die vor ihr dort gewohnt hatte? In genau diesem Moment wurde sie ohne ihr Wissen zu einer Figur in Thorpes Roman. Was würde sie in diesem Roman tun, überlegte ich, was sie im echten Leben nicht tat? Welche Entscheidungen würden für sie getroffen werden, die sie nicht für
sich selbst treffen würde? Welchen Namen würde Thorpe ihr geben und welche Worte ihr in den Mund legen? Würde sie das Buch eines Tages lesen und sich wiedererkennen?
    Ich schloss die Augen. Wenn ich mich stark genug konzentrierte, konnte ich beinahe die Stimmen meiner Eltern aus dem Haus dringen hören. Natürlich waren sie nicht da, aber man sollte die Kraft der Fantasie nicht unterschätzen. In der Welt, die ich in diesem Moment dort auf den Stufen vor dem Haus meiner Kindheit neu ordnete, hatten meine Eltern sich nie scheiden lassen, waren nie fortgezogen. Sie saßen am Küchentisch und unterhielten sich. Mein Vater erzählte meiner Mutter von einer Geschäftsreise, die er kürzlich nach Schweden unternommen hatte, von einer zufälligen Begegnung mit einem alten Kommilitonen am Flughafen von Stockholm. Meine Mutter berichtete ihrerseits, dass ein zehn Jahre altes Urteil gegen einen ihrer Mandanten gerade aufgehoben worden war. Jede dieser Geschichten war mir tatsächlich von meinen Eltern in den vergangenen Wochen erzählt worden, allerdings getrennt voneinander. Meine Mutter

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